„Hinterher war es so still – die Erklärung dafür weiß ich nicht – aber es war wie die Stille in der Stadt, wenn es stark geschneit hat.“ So beschreibt der New Yorker Polizeiinspektor James Luongo den Eindruck, nachdem am 11. September 2001 die beiden Türme des World Trade Centers (WTC) in New York eingestürzt waren. Der Journalist Garrett M. Graff (Jahrgang 1981; CNN, „New York Times“, „Rolling Stone“) hat die Lautlosigkeit, die vielen damals auffiel, im Titel für sein neues Buch thematisiert: „Und auf einmal diese Stille“.
Dem Verstummen der Herzen und Seelen begegnet er mit seiner „Oral History des 11. September“, die jetzt auf Deutsch erschienen ist. Auf 500 Seiten gibt der Stimmensammler Menschen die Möglichkeit zu erzählen: vom Bub, der zu der Zeit fünf Jahre alt war und dessen erste Erinnerung ausgerechnet diese Katastrophe ist, bis hin zum FBI-Agenten, der routiniert erklärt, welche Untersuchungen bei den Absturzstellen vorgenommen wurden.
Bei mündlich überlieferter Geschichte kann jeder zu Wort kommen, und darauf legt Graff großen Wert. 2021 ist es 20 Jahre her, dass die USA, ja die ganze Welt – Menschen aus 90 Nationen starben – von Islamisten angegriffen wurden. Im Vorwort vergegenwärtigt der Autor, dass es jetzt schon viele gibt, die nach dem Unglück geboren wurden. Er möchte das Wissen um jene Ereignisse, die Leidenden, die Opfer und die Tapferen nicht untergehen lassen. Zugleich versorgt er die Leserinnen und Leser mit Fakten: von der Zahl der 2983 Toten – darunter die sechs, die bei dem Anschlag aufs WTC 1993 umkamen – bis zu all den Plätzen, die die Air Force One mit Präsident George W. Bush und seinem Stab anflog, um ihn, also die Regierungsfähigkeit, zu schützen.
Klar gliedert Graff den Tag des 11. Septembers 2001 in den USA von der Ost- bis zur Westküste. Die Kapitelüberschriften leiten einen, wenn man sich bestimmte Sequenzen herauspicken möchte; in diese Abschnitte sind knappe Erklärungen eingefügt, sodass sich sowohl die Nachgeborenen als auch die Nicht-US-Amerikaner zurechtfinden können.
Herzstück sind indes die Geschichten der Menschen. Die Oral-History-Expertin und Historikerin Jenny Pachucki habe, so Graff, „5000 relevante Tonaufnahmen, Videos, Zeitzeugenberichte und Dokumentationen in Sammlungen und Archiven im ganzen Land ausfindig gemacht“. 2000 habe er rezipiert, um eine Auswahl zu treffen. Er selbst habe „einige hundert Interviews“ und Ähnliches gesammelt. Daher kann es an dieser Stelle keine Buchbesprechung im üblichen Sinne geben. Wir wollen vielmehr einige Personen in kurzen Zitaten sprechen lassen.
Am Anfang wählt Garrett Graff dramaturgisch geschickt die Außenperspektive Commander Frank Culbertson, Astronaut, Nasa, wurde am 11.9. informiert und suchte aus der Umlaufbahn der Raumkapsel mit Kameras „diese große, schwarze Rauchsäule, die über New York aufstieg“, später erkannte er den „klaffenden Riss“ im Pentagon.
United Airlines Flight 175 wurde kurz nach 8.41 Uhr gekapert. Die erste entführte Maschine, Flug 11, bohrte sich um 8.46 Uhr Ortszeit zwischen dem 93. und 99. Stock in den einen Baukörper des WTC. Robert Leder, leitender Angestellter, SMW Trading Company, Nordturm: „Unser Büro lag auf der 85. Etage. Ich schaute aus dem Fenster Richtung Empire State Building, als ich sah, wie das Flugzeug ins Gebäude flog. Es gab eine wahnsinnige Druckwelle. Die Decke in unserem Büro brach zusammen. Einige Wände gaben nach.“ Louise Buzzelli wartete auf ein Lebenszeichen ihres Mannes, Statiker in der 64. Etage: „Er hat mich dann tatsächlich noch einmal angerufen, nachdem das zweite Flugzeug ins Gebäude geknallt war. ,Puh, hast du es nach unten geschafft? Alles in Ordnung? Wo bist du?‘ Er antwortet: ,Nein, wir sind immer noch hier.‘ Ich wurde wahnsinnig wütend auf ihn.“ Wie durch ein Wunder überlebte ihr Mann, obwohl er mit dem Treppenhaus B 18 Stockwerke abstürzte.
Flug 93 wurde um etwa 9.30 Uhr entführt, Verzweifelte riefen ihre Lieben an. CeeCee Lyles, Flugbegleiterin an Bord von Flight 93, in einer Sprachnachricht an ihren Ehemann Lorne: „Ich liebe dich. Bitte sag den Kindern, dass ich sie lieb habe … es sind drei Typen. … Wir haben gewendet, und ich habe von Flugzeugen gehört, die ins World Trade Center geflogen sind. Ich hoffe, ich werde dich wiedersehen, Baby. Ich liebe dich, bye.“ Um 9.59 Uhr stürzte der Südturm mit rund 200 Kilometern die Stunde ein. James Filomeno, Feuerwehrmann, Marine 2, FDNY: „Wir hatten nahe am Landungssteg festgemacht. Die Leute sind auf uns zugerannt wie eine Herde Rinder. Ich habe gesehen, wie Trümmerteile auf sie herabregneten. Menschen sprangen kopfüber und schreiend aufs Schiffsdeck. Versuchten, mir ihre Kinder in die Arme zu drücken: ,Nehmen Sie mein Baby. Nehmen Sie mein Baby.‘ Menschen sind ins Wasser gefallen. Es war grauenvoll.“
Etwa zur gleichen Zeit griffen einige Gäste des Flugs 93 über Somerset County die Terroristen an. Der Rekorder im Cockpit zeichnete die arabischen und englischen Sätze auf, bis die Verbrecher die Maschine zum Absturz brachten. Douglas Miller, Lkw-Fahrer, James F. Barron Trucking: „Ich schaute gerade zufällig zum Himmel hoch, und da war dieses riesige Flugzeug, das direkt nach unten schoss.“
Um 8.01 Uhr hatte sich Flug 77 zum letzten Mal regulär gemeldet. Die Entführer steuerten danach Washington an. Danielle O’Brien, Fluglotsin, Washington Dulles International Airport, Virginia: „Die Fluglotsen des Washington National Airport meldeten sich über unsere Lautsprecher und sagten: ,Dulles, stoppt unseren gesamten eingehenden Flugverkehr. Das Pentagon ist getroffen.‘“
Besonders berührend sind all die Erzählungen über Rettungsversuche und Rettungen. Einen sehr, sehr hohen Stellenwert im Herzen der New Yorker nahm der Feuerwehr-Kaplan Mychal Judge ein. Am 11. September stand er den Menschen im World Trade Center bei und versah den Feuerwehrmann Danny Suhr mit der Letzten Ölung. Er war von einem aus dem brennenden Turm fallenden Körper erschlagen worden. Der Kaplan wurde tödlich verletzt, als der Südturm einstürzte und den Nordturm zusätzlich demolierte. Bruder Michael Duffy: „Der Leichnam von Mychal Judge war der erste, der von Ground Zero geborgen wurde. Oben auf seinem Totenschein steht die Zahl 1.“
Auch Retter wie Polizisten und Feuerwehrleute mussten geborgen werden. Cap. Jay Jonas, Ladder 6, FDNY: „Wir wissen immer noch nicht, was passiert ist. Wir sind noch am Leben. Wir husten, würgen, die Sicht ist schlecht. Rund um uns sehe ich Wände aus verbogenem Stahl.“ Und in den Krankenhäusern, wo hunderte von Verletzten behandelt werden mussten, war man verzweifelt, als keine weiteren mehr kamen. Francine Kelly, Krankenpflegerin und Oberschwester, Saint Vincent’s Catholic Medical Center, New York: „Aber dann ließ der Ansturm traurigerweise nach. Das war sehr, sehr schwer für uns, wir sehnten uns nach der Sirene des Krankenwagens.“
Am Abend des 11. Septembers 2001, der nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA als heiter sonniger Tag begonnen hatte, versuchten die US-Amerikaner, sich aufzurappeln, alles Nötige zu organisieren und Seele und Geist zu stützen. Bruno Dellinger, Firmeninhaber, Quint Amasis North America, Nordturm, 47. Stock: „Als ich nach Hause kam, zog ich sofort den Anzug aus, und – keine Ahnung warum – vielleicht weil ich unterbewusst daran dachte, dass sich in der Asche womöglich sterbliche Überreste befanden, kehrte ich sie in eine kleine Schachtel. Den Anzug konnte ich nie wieder tragen, auch nicht den Schlips und die Schuhe. Irgendetwas hat mich bewegt, den Staub aufzubewahren, ich habe ihn immer noch in der Schachtel mit dem Einzigen, was von meinem Büro übrig ist: dem Schlüsselbund.“
Garrett M. Graff:
„Und auf einmal diese Stille – Die Oral History des 11. September“. Aus dem amerikanischen Englisch von Philipp Albers und Hannes Meyer. Suhrkamp nova, Berlin, 537 Seiten; 20 Euro.