Sie beansprucht einen Raum für sich allein – von ihrer Größe her, aber noch mehr ihres Inhalts, ihrer Aussage wegen: die Skulptur von Anselm Kiefer, „Schewirat ha-Kelim“ (Buch der Gefäße). Kiefers Arbeit ist vielleicht nicht das Herz der neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums in Berlin, aber sie ist inmitten dieser komplexen, oft recht kleinteiligen, clipartigen Schau ein faszinierender Ort der Ruhe, des Innehaltens, der Fragen und des Versuchs einer eigenen Deutung. Was ist zu sehen jenseits der breit gefächerten Exponate, historischer, religiöser, traditioneller und moderner Ereignisse, Mythen und Riten jüdischen Lebens in Deutschland? Anselm Kiefer gestaltet eine Bibliothek aus Blei: ein Regal großer, ins Wanken geratener Bücher, dazwischen stecken Glasscherben, und der Boden, auf dem das Regal steht, ist übersät mit Splittern aus Glas. Über allem befindet sich ein Halbkreis mit dem Namen des unendlichen Gottes. Kiefer, so der erklärende Text, nimmt damit Bezug auf die Urkatastrophe des Schöpfungsprozesses, wie der Kabbalist Isaak Luria sie sah. Den Künstler interessiert dabei die Idee, dass die Schöpfung nicht makellos war, sondern von Anbeginn das Böse und Unvollkommene, aber auch die Möglichkeit der Umkehr beinhaltet. Und wie jedes starke Kunstwerk gräbt sich auch dieses tief ein ins eigene Bewusstsein.
Am gestrigen Sonntag wurde in Berlin die neue Dauerausstellung eröffnet. Damit hat die Holländerin Hetty Berg auf eindrucksvolle Weise ihre Visitenkarte als seit April agierende Direktorin des Jüdischen Museums abgegeben. Fast 20 Jahre ist es her, dass das Museum, der spektakuläre Bau von Daniel Libeskind, eröffnet wurde. Die damalige Dauerausstellung hat man nach 16 Jahren, 2017, geschlossen zugunsten einer neuen mit verändertem Konzept. „Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland“ – so der Titel der auf 3500 Quadratmetern und zwei Etagen inszenierten Schau. Was ist anders als in der Ausstellung, die von 2001 bis 2017 elf Millionen Besucher anzog? Hetty Berg: „Die jüdische Geschichte hat sich nicht geändert, aber unsere Perspektive darauf. Die Gesellschaft wandelt sich und mit ihr auch das Publikum des Jüdischen Museums Berlin. Darauf geht die Ausstellung ein. Sie zeigt die Vielfalt des Judentums und ermutigt Besucher, jüdische Kultur in Vergangenheit und Gegenwart aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.“
Vom Mittelalter bis heute – ein mehr als ein Jahrtausend weiter Weg der Juden kann hier in der ästhetisch sehr ansprechenden Ausstellungsarchitektur von chezweitz GmbH/ Hella Rolfes Architekten BDA thematisch nachvollzogen werden in Bild und Ton und gegenständlichen Exponaten. Die Schau ist unterteilt in mehrere Kapitel. Zum Auftakt die Holzskulptur eines aufgefächerten Baumes, an den jeder Besucher ein mit seinen Wünschen beschriebenes grünes Blatt hängen kann. Der Baum als eine Metapher für die jüdische Kultur und ihre Wechselwirkungen, der auf seine Umwelt angewiesen ist und zugleich zur Gesundheit und Schönheit seiner Umgebung beiträgt. So will Berg dieses fünf Meter hohe Exemplar gedeutet wissen. Von da aus geht es in die Bereiche, die den Themen Thora, Gebot und Gebet, die Epoche der Aschkenas und so weiter gewidmet sind.
Videos und Multimedia-Darstellungen machen das oft nur Abstrakte anschaulich. Worms, Speyer, Mainz lassen sich als frühe Zentren jüdischen Lebens auf alten Stadtplänen erkunden. Die sinnliche Kraft hebräischer Gebete wird in einer Videoprojektion, „Visual Prayer“, erfahrbar. Die frühe Neuzeit wird beleuchtet, die Unsicherheit der meist ländlichen Existenz der Juden, denen im 18. Jahrhundert immer nur ein befristetes Bleiberecht zugestanden wurde. „Schutzbriefe“ wurden vom jeweiligen Landesherrn gegen Entgelt auf Zeit ausgestellt. Ein Thema, dem man sich wie auch bei einigen anderen mehr Vertiefung wünschte. Die Ausstellung galoppiert zu rasant durch die einzelnen Segmente. Oft möchte man sagen „verweile doch …“. Aber schon ist man angelangt in der Epoche „Auch Juden werden Deutsche“. Die Zeit der Aufklärung. Berlin als Schmelztiegel und Zentrum des Wandels. Der Bau großartiger Synagogen, die heute nicht mehr existieren, aber doch mit einer VR-Brille zu begehen sind.
Auf einem im weiten Halbrund angelegten Gang widmet sich die Ausstellung dem Thema Klang. Gibt es einen spezifisch jüdischen Klang? Sound-Duschen aus herabhängenden Metallröhren konfrontieren bei Berührung die Besucher mit unterschiedlichen Klängen – mit Purimrasseln, Hochzeitsmusik oder Synagogengesang. An anderer Stelle wird man bekannt gemacht mit den Geboten koscheren Essens und ihrer Einhaltung oder Nichteinhaltung. Ein weiteres Thema: Kunst und Künstler. Gezeigt werden auf gläsernen Stelen kostbare Gemälde, unter anderem von Max Liebermann, Lesser Ury und Felix Nussbaum. Nach dem Gang durchs Kino, das in Filmschnipseln die ruhmreichen Jahre und Erfolge jüdischer Akteure der Weimarer Republik beschwört, geht es in das Treppenhaus, die „Hall of Fame“, ausstaffiert mit comicartigen Porträtzeichnungen jüdischer Berühmtheiten von den Marx Brothers über Lilli Palmer bis zu Amy Winehouse.
In der folgenden Etage dann schwerwiegend die Epoche der Katastrophe. Mindestens so eindrucksvoll wie Anselm Kiefers bombastische Blei- und Scherben-Skulptur sind hier die als raumgreifende Installation erscheinenden, auf weißen Hängern gedruckten Verordnungen gegen Jüdinnen und Juden ab 1933. Knapp tausend Erlasse sind auf den eng beschrifteten Bahnen aufgeführt. Man geht durch diesen Gang der weißen Fahnen und kann es in ihrer Banalität des Bösen kaum fassen, wohl wissend, wohin, nämlich in die Vernichtung, das zielgerichtet geführt hat. Natürlich endet die Ausstellung damit nicht. Sie ragt in die Zeit nach 1945, das „Warten auf Gerechtigkeit“, in das Beziehungsdreieck „Israel, Deutschland und die Juden“ sowie zu der Zuwanderung ab 1990 aus dem russischen Raum. Mit einem Ernst-Bloch-Zitat entlässt die Schau ihre Besucher: „… so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
Jüdisches Museum,
Lindenstraße 9-14, täglich 10-19 Uhr; Eintritt: 8/3 Euro, unter 18 Jahren frei; Zeitfensterticket erforderlich: shop.jmberlin.de.