Auf der Zielgerade tobt die Schlacht. Leichenberge, Intrige, verbotene Liebe, alles inklusive – bis hin zur großen Versöhnungsorgie. Nur, dass man nichts davon sieht. Wobei: Der Blick auf die historischen, liebevoll bepinselten Kulissen, dazu das überbordende Interieur des Zuschauerraums mit den Logen, Säulen, Aufgängen und Hunderten kleinen Details, all das entschädigt ja für vieles. Und wird auch, die verzückt gezückten Smartphones beweisen es, ausgiebig dokumentiert.
Mit zwei konzertanten Aufführungen von Leonardo Vincis „Gismondo, Re di Polonia“ ist am Wochenende das erste Festival Bayreuth Baroque zu Ende gegangen. Szenisch, dazu hat es nicht gereicht – vom Budget her und auch vom Zeitplan. Nur für zwei Wochen durfte Max Emanuel Cencic ins Markgräfliche Opernhaus. Bei zehn Tagen Festspielzeit bedeutet das vier Tage Proben, das meiste wurde zuvor in Griechenland vorbereitet. Gerade genug, um die einzige Inszenierung, Nicola Porporas „Carlo il Calvo“, zu stemmen. Was dem Countertenor, Regisseur, Produzenten und frisch gebackenem Festspielchef dabei glückte, ist ein mindestens mittelgroßes Wunder.
Zum Finale steht er selbst nochmals auf der Bühne, als Polen-König Gismondo. Die Handlung verschränkt zwei Ebenen: Da ist zum einen Primislao, Herzog von Litauen, der Gismondo die Ehrerbietung verweigert. Und da gibt es zum anderen Liebesgeschichten, an denen die Kinder der beiden Streithähne beteiligt sind – dummerweise verknallt man sich meist in den oder die der Gegenseite. Cencic, einer der findigsten Barock-Spürhunde, hat den Dreiakter bereits auf einer hochgelobten CD-Box vorgelegt. In Bayreuth gibt’s quasi die Aufführung zur Silberscheibe.
Jede Partie ist perfekt gecastet. Man höre dazu nur Aleksandra Kubas-Kruk als herb-auffahrenden Primislao, die stilvolle Tragödin Sophie Junker als Primislao-Tochter Cunegonda, den strahlend-virtuosen Yuriy Mynenko als Gismondo-Sohn Ottone oder den Festspiel-Chef selbst: Max Emanuel Cencic gibt nicht nur äußerlich elegant, mit in Samt gepackter Counterstimme den Titelhelden. Eine Entdeckung ist das polnische Orkiestra Historyczna mit seiner grandiosen, dirigierenden Konzertmeisterin Martyna Pastuszka. Wo und wie Cencic all diese Künstler entdeckt, bleibt wohl sein Geheimnis.
In dreidreiviertel Stunden inklusive Pause wird das Geschehen aufgerollt. Ein paar Nummern sind gekürzt, dem konzertanten Unternehmen tut das nur gut. Man labt sich an einer Musik, die auch in den vielen introspektiven Arien so farben- und finessenreich ist, dass Händel-Fans ins Grübeln kommen müssen. Der Jubel ist lang, die nur 200 zugelassenen Besucher tun alles, damit wenigstens die Begeisterung nach vollem Haus klingt. Zur Belohnung gibt’s noch einmal das Schlussensemble.
Zehn Tage ausverkauft, das muss Cencic mit gallenbitterem Humor registrieren. Finanziell war der erste Durchlauf seines Projekts gelinde gesagt ein Problem. Doch die Geldgeber haben signalisiert, dass es weitergehen muss und wird. Bayreuth Baroque war eines der wenigen europäischen Festivals, die überhaupt durchgeführt wurden, und es steckt (nicht nur) der Wagner-Stadt ein neues Glanzlicht auf. Künstlerisch hätte der erste Durchgang für Cencic nicht besser laufen können.
Der zurzeit beliebte Passus „Wir fahren auf Sicht“ gilt auch für diese Festspiele. Eigentlich hatte Cencic fürs kommende Jahr ein im Wortsinn sagenhaftes Stück programmiert, das dem Geschehen auf dem grünen Hügel Paroli bieten wollte. Stattdessen wird 2021 „Carlo il Calvo“ wiederaufgenommen, die Produktion hat es mehr als verdient. Und schon jetzt wurde deutlich: Mit Bayreuth Baroque macht Cencic den ähnlich konzipierten Salzburger Pfingstfestspielen und ihrer Chefin Cecilia Bartoli heftige Konkurrenz. Der Vorteil der Oberfranken: Sie haben das tausendmal schönere Haus.
Die CD zur Aufführung:
Leonardo Vinci: „Gismondo, Re di Polonia“. Orkiestra Historyczna, Martyna Pastuszka (Parnassus).