Neapel schillert wieder schön und giftig

von Redaktion

Elena Ferrantes Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ macht neugierig auf mehr

VON SABINE DULTZ

Ein kostbares, altes Weißgoldarmband ist der Auslöser der familiären Katastrophe. „Schau hin, schau genau hin.“ Das hämmert ihr Tante Vittoria ein. Und Giovanna, das 13-jährige Mädchen, nimmt es sich zu Herzen. Ihr Blick auf die Eltern und deren linksliberalen, marxistisch daherschwafelnden Freundeskreis in Neapels Nobelbezirk Vomero, aber auch auf Vittoria und deren Anhang in den proletarischen Niederungen der Stadt ist genau der, den mit unbestechlicher Genauigkeit die Autorin Elena Ferrante auf die Menschen Neapels wirft.

Die Verfasserin der vierbändigen neapolitanischen Saga „Meine geniale Freundin“ hat mit „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ eine weitere schillernde Facette ihrer süditalienischen Menschen-Schau vorgelegt. Realistisch, interessant, spannend. Glänzend zu lesen. Aber, das sei vorweggenommen, die gesellschaftspolitische Dimension ihrer Tetralogie erreicht dieser neue Roman nicht. Er bleibt in der Wiedergabe dessen, wie in den Neunzigerjahren ein Mädchen zur jungen Frau heranwächst, weitgehend losgelöst vom politischen Umfeld. Erzählt wird aus der subjektiven Perspektive der längst erwachsenen Giovanna. Da begegnen wir der Dreizehnjährigen in ihrem schönen Zuhause. Zwar verunsichern sie bereits die Veränderungen, die in ihrem Körper vorgehen, aber wie sicher fühlt sie sich doch noch in den Armen ihres so liebe- und verständnisvollen wie auch attraktiven Vaters Andrea. Der ist nicht nur Geschichtslehrer an einem Gymnasium, sondern zudem Autor linksliberaler Zeitungsartikel. Immer am Schreiben für eine bessere Welt. Ihre Mutter Nella, auch sie Gymnasiallehrerin, arbeitet ebenfalls wie verrückt. Nicht nur das Korrigieren von Schulaufsätzen, sondern auch das Redigieren billiger Liebesromane zur Aufbesserung ihres Lebensstandards fesselt sie an den Schreibtisch. Man ist so aufgeklärt und großzügig in dieser Familie, besser kann es gar nicht sein.

Doch was ist mit dem erwähnten Armband? Womit wir wieder bei Tante Vittoria wären. Sie ist die Schwester von Giovannas Vater; ungebildet, katholisch, arm, vulgär, Putzfrau, immer noch dort lebend, wo der schicke Andrea herkommt und nie wieder hinwill. Totgeschwiegen wird die allzu gewöhnliche Vittoria. Und als ihm einmal leichtsinnig entfährt, dass er sich sorge, seine Tochter könne seiner Schwester ähnlich werden, ist Giovanna nicht nur tief gekränkt, sondern auch wild entschlossen, die Tante kennenzulernen.

Sie steigt hinab in die trostlose Wohnebene und Industriezone Neapels, ist von Vittorias ordinärer Härte gleichermaßen abgestoßen wie angezogen und weiß nichts darauf zu antworten, als diese sie fragt, warum sie denn nicht das Armband trage, das sie ihr zu ihrer Geburt geschenkt habe.

Keine Ahnung. Aber Giovanna will’s wissen. Sie lässt ihren Eltern keine Ruhe, stellt unangenehme Fragen, wundert sich, dass die Frau der befreundeten Familie ihrer Eltern ihr eines Tages ein Armband schenkt, und stellt fest, dass nichts so ist, wie es bisher immer schien. Man tauscht die Bettpartner, Giovannas toleranter Vater steigt sozial noch einmal auf, indem er mit der vermögenden Frau seines Freundes zusammenzieht. Deren Töchter und Giovanna, beste Freundinnen seit jeher, sind sich nicht nur zärtlich zugetan, sondern besprechen alle Probleme haarklein, auch die mit der Verwandtschaft in Neapels Industriezone.

Anziehung und Abstoßung. Die harten Typen zwischen Armut und Cabriolet, wie sie uns aus der Tetralogie bestens bekannt sind, verfehlen auch bei Giovanna ihre Wirkung nicht. Ebenso wenig die ungeschönte Einführung ins kurze, aber heftige einstige Sexual- und Liebesleben von Tante Vittoria, die in ihrem Umfeld alle beherrscht. Auf anderem sozialen Niveau gleicht es beim genauen Hinschauen doch dem Leben ihres Bruders. Lässt sich verwandtschaftliche Bindung nie abstreifen? Und was davon steckt in Giovanna? So wie sie sich aus ihrer Bürgerlichkeit herauswindet, so kämpfen die von Vittoria abhängigen jungen Leute aus dem Armenviertel darum, ihrem Milieu und der Macht dieser Frau zu entfliehen.

Ausreichend Gelegenheit gibt es für das zwischen Wahrheit und Lüge, Abscheu und Versuchung hin- und hergerissene junge Mädchen, erwachsen zu werden, den Sex selbstbestimmt auszuprobieren und, endlich 16, am Ende des Romans sich von den Eltern emanzipiert und ganz zu sich gefunden zu haben. Das Armband übrigens nahm seltsame Wege. Parallel erzählt es und verbindet auf etwas andere Weise die Geschichte dieser Menschen. Möglich, dass es in einem Folgeband des Romans erneut auftaucht. Elena Ferrante jedenfalls hat unsere Neugier geweckt.

Elena Ferrante:

„Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin, 414 Seiten; 24 Euro.

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