Da haben sich die Richtigen gefunden. Ulrike Draesner (Jahrgang 1962) und Kurt Schwitters (1887-1948), die Schriftstellerin und der bildende Künstler. Ihre Schnittmenge liegt nicht nur – wie es beim Meister der „Ursonate“ automatisch angemessen scheint – im weiten Feld des Worts, der Wühlarbeit in Mutter- und Fremdsprache und im Aufspüren von Sinn, Unsinn und Nonsens, von Klanglichkeit und Rhythmus des Sprechvorgangs. Die gebürtige Münchnerin, die heute als Professorin in Leipzig und Berlin lebt, hat die Schnittmenge auf begeisternde, quicklebendige, poetisch energische und furchtlose Weise ausgedehnt. Mit dem Roman „Schwitters“ ist ihr eine extreme Ausnahme gelungen. Eine Biografie, die eine wahre Lebensgeschichte wird, eben weil sie keine Biografie ist. Dieses Buch ist Kunst. Dadurch blüht der Inhalt zur Wahrhaftigkeit auf.
Die Dichterin wählt einen Ausschnitt des Schwitters-Seins: vom Herbst 1936 bis rund 20 Jahre nach seinem Tod. Die schönen Jahre sind ’36 vorbei. Naturgemäß war dieser eine Vater der Moder- ne, auf den von Joseph Beuys über Rosemary Trockel bis zum heutigen Nachwuchs in den Kunstakademien sehr, sehr viele Künstler fußen, stets ein Außenseiter. Zuerst war er einer im Anzug, verwöhnt vom Geld aus dem elterlichen Familienbesitz, von seiner Frau Helma und zahlreichen anderen Liebschaften, anerkannt als Werbegrafiker (Pelikan) und teils von der Kunstszene als knallverrückter Dadaist. Mehr noch: Kühn, ohne Vorbild hatte er das Bildhauerische von außen nach innen gestülpt. In der heimischen Villa in Hannover wucherte der MERZbau; das ausgeschnittene Stück „MERZ“ von „Commerzbank“ war sein Emblem geworden. Dieses in 17 Jahren gewachsene Eingeweide, längst zu einer der großen Legenden der Kunsthistorie geworden, ist im Bombenkrieg untergegangen. Ulrike Draesner hat es für uns wiedererrichtet, lässt uns hineinschlüpfen.
Zugleich ist ihr Roman ihr eigener „MERZbau“, ein aus unzähligen, oft scheinbar unerheblichen Fundstücken geformtes Gehäuse aus Oberflächen und Inwendigem, aus Fakten und Erfundenem, das das Wichtigste aussagt. Denn dadurch stößt die Schriftstellerin zum Kern vor – indem sie ihm viel Fruchtfleisch verschafft. Sie erschreibt und erzählt uns die Erkenntnis, wie schnell ein Außenseiter ins Exil gedrängt wird. Dieses Außen wird ihm in Muskeln und Seele hineingepresst. Schwitters ist für Draesner exemplarisch: Der Mensch, der gegen das Fremdsein ankämpft, es jedoch nie mehr abstreifen kann/will.
Im Buch beginnt das, als 1936 in Hannover die grauen Umzugslaster ohne Aufschrift in Schwitters’ Straße einbiegen. Die Nazis rauben die jüdischen Nachbarn aus; der Künstler weiß, dass ihm, dem „Entarteten“, die Verbrecher näherrücken, längst hätte er fliehen müssen, aber Familie und Kunstwerke halten ihn. Nie ohne Humor, stets einfühlsam schildert die Autorin, wie das Ehepaar, dieses Lebens- und Arbeitsteam, auseinandergerissen wird; wie der Gestapo-Horror funktioniert; wie einen das rettende, bald selbst bedrohte Land (Norwegen) im Stich lässt; wie nach fast tödlicher Flucht übers Meer einem das zweite rettende Land misstraut (englisches Gefangenenlager) und wie man mit nichts zu überleben versucht.
Ulrike Draesner formt dabei ganz organisch mal einen nervenaufreibenden Abenteuerroman, mal Szenen einer Ehe, mal eine Familienaufstellung, mal einen Reisebericht, mal eine wunderzarte Liebesgeschichte und, ja, immer wieder einen besonderen Künstlerroman. Auf all diesen Ebenen dringt sie in eine unwahrscheinliche Tiefe. Lässt jeder Figur Gerechtigkeit widerfahren, wobei Kurt Schwitters’ Schwiegermutter, eine in ihrer Fürchterlichkeit schon wieder grotesk komische „Hitlerette“, eine Karikatur bleibt. Allein schon die vielschichtigen Menschwerdungen lösen pure Lesefreude aus.
Übertroffen wird das poetische Können noch durch Draesners Erleben und Erleben-Lassen von Schwitters’ Kunst und Kunst-Machen. Das ist singulär in der Literatur. Als Leserin und Leser spürt man förmlich, wie Schwitters die Autorin mit- und hingerissen hat. Jedes Wort strahlt großes, inniges Vergnügen aus: nicht nur wenn es um die Sprach-Vexierspiele Englisch-Deutsch geht, sondern auch um bildende Kunst, insbesondere um die MERZbauten, die Sisyphos Schwitters in Deutschland, Norwegen und England begonnen hat. Ebenso umwerfend ist Ulrike Draesners Vermögen, sich der Natur sprachlich so anzuschmiegen, dass man sich widerstandslos sogar nach Ambleside im rauen, wasser- und bergverwunschenen Lake District versetzen lässt.
Trotz all der Schönheit, der Liebe, der Lustigkeit klingt in „Schwitters“ doch immer der Verfall, der Schmerz, die Heimatlosigkeit, die Vergeblichkeit mit – das Leben ein Exil.
Ulrike Draesner:
„Schwitters“. Penguin Verlag, München, 471 Seiten; 25 Euro.