Mit Herz und Verstand

von Redaktion

Die Violinistin Alice Harnoncourt feiert an diesem Samstag ihren 90. Geburtstag

VON MARKUS THIEL

Der Außenstehende nahm sie meist nur so wahr: als stille, fast unscheinbare Frau, die im vorderen Parkett saß. Doch Alice Harnoncourt wartete nicht geduldig das Ende der Probe oder der Aufnahmesitzung ab, sie machte sich Notizen. Später ging sie Takt für Takt alles mit ihrem Mann durch. Und Nikolaus Harnoncourt hörte sich das an. Wenn es, was höchst selten war, Differenzen gab, dann war das ein wenig heikel. „Es hat ihn ausnehmend irritiert“, wie Alice Harnoncourt einmal unserer Zeitung sagte.

An diesem Samstag feiert sie ihren 90. Geburtstag, und keines dieser teils ausgelutschten Klischeewörter trifft auf die gebürtige Wienerin zu: Stütze, Beraterin, rechte und linke Hand, bessere Hälfte – das Phänomen Harnoncourt bestand von Beginn an aus zwei Personen. Aus zwei in Liebe und beruflich verbundenen, symbiotischen Wesen. Über die Musik fanden sie zusammen, damals an der Wiener Universität – als beide begriffen, dass (nicht nur) der Barock mehr benötigte als in sich selbst ruhenden, belanglosen Schönklang.

Für Nikolaus Harnoncourt verzichtete die junge Geigerin auf ihre mutmaßlich große Solo-Karriere und gründete mit ihm 1953 den Concentus Musicus Wien. Wie er spielte auch Konzertmeisterin Alice Harnoncourt auf den Barrikaden einer musikalischen Revolution, doch tat sie es eben ohne den wortgewaltigen, provozierenden Furor ihres 2016 gestorbenen Mannes.

Wie viel Kraft und Geduld sie die gemeinsame Weltkarriere kostete, lässt sich nur ahnen. Ein musikalisch besessener Gatte, der seine sichere Stellung bei den Wiener Symphonikern aufgibt und immer wieder neue historische Instrumente kauft. Die Erziehung der vier Kinder. Die unzähligen Konzerte und Tourneen. Der furchtbare Schicksalsschlag, als Sohn Eberhard stirbt. Die Erfahrung, dass Revolutionen auch auf Ablehnung bis Hass stoßen können. Schließlich die schwere, tödlich verlaufende Krankheit ihres Mannes. Alice Harnoncourt hat das alles auf ihre Art geschafft – als eine stets ausgeglichen wirkende, besonnene, auch zähe und vor allem auf ihren Glauben vertrauende Frau.

Wenn’s denn ein Klischee sein darf: Sie war immer der rationale, besänftigende Teil dieses einzigartigen Duos. Wenn ihm mal das Temperament durchging, war Alice Harnoncourt zur Stelle. Heute hütet sie nicht nur das meist von ihr mit Vortragsangaben versehene Notenarchiv, sie gibt auch ab und zu Bücher mit postum veröffentlichten Schriften ihres Mannes heraus. Noch immer lebt sie in St. Georgen im österreichischen Attergau, in einem alten, verwunschenen Anwesen. Auf dem Friedhof des Städtchens ist Nikolaus Harnoncourt begraben. Ein paar Monate ist es her, da überwucherte ein wilder, ungezähmter, extrem stachliger Rosenbusch das Grab, so wie es diesem Dirigenten gebührte. Das Gewächs wurde mittlerweile etwas gestutzt – so, wie es zu Alice Harnoncourt passt.

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