Katastrophen-Pathos

von Redaktion

PREMIERENKRITIK  Kleists „Erdbeben in Chili“ im Münchner Residenztheater

VON ALEXANDER ALTMANN

Zumindest ihren Humor haben sie sich nicht nehmen lassen am Münchner Residenztheater: Die automatische Ansage, in der zu Beginn das Publikum gebeten wird, die Handys auszuschalten, endet jetzt mit dem Hinweis, „Genießen Sie die ungewohnte Beinfreiheit“. Denn aus Abstandsgründen wurde im Parkett jede zweite Stuhlreihe ausgebaut. Dass so viel ansonsten ja rar gewordener Freiheitsgenuss die Zuschauer vom Bühnen-Geschehen ablenken könnte, muss man gleichwohl nicht befürchten. Jedenfalls nicht in Ulrich Rasches Inszenierung von Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ (1807), mit der nach langer, langer Pause jetzt die neue Spielzeit eröffnet wurde.

Denn natürlich geht es an diesem Abend streckenweise wieder so laut zu, wie man es von Rasches monumentalen Theater-Exerzitien kennt: Live-Musiker im Bühnenhintergrund erzeugen die dröhnenden, stampfenden Rhythmen, deren suggestiver Gewaltsamkeit sich niemand entziehen kann – und die jene faschistoide Lust an der Selbstaufgabe, am Aufgehen in der gelenkten Masse erfahrbar machen, die leider jederzeit aktivierbar ist.

Auch die Schauspieler, fünf Frauen und vier Männer in Schwarz, bewegen sich auf einer ständig rotierenden Scheibe halb schreitend, halb marschierend, fast pausenlos in diesem Rhythmus. Und in diesem Rhythmus rezitieren sie, umwallt von Nebel, mal im Chor, oft aber einzeln, Kleists Text.

Der typische Trauer-Rave eben, den man von Ulrich Rasche kennt und der meist ja auch ganz großartig funktioniert. An diesem Abend gilt das freilich nur mit Einschränkungen. Sicher, dem Regisseur ist eine imposante, trotz aller Düsternis erhellende und bildstarke Inszenierung gelungen. Aber das Problem liegt darin, dass das ostentative Pathos des Rasche-Theaters zwar hervorragend zu „grellen“ Autoren wie Schiller oder auch Sarah Kane passt, nicht aber zu Kleist.

Die bestürzende Eindringlichkeit von Kleists Literatur erwächst nämlich aus dem Gegensatz zwischen Inhalt und Form: Ungeheuerliche Geschehnisse werden da im Duktus neutraler, fast nachrichtenhafter Berichte vorgetragen, die hauptsächlich äußere Abläufe wiedergeben – wiewohl in einer Prosa, deren extreme Spannung die untergründige Erregtheit spiegelt, die der Widerspruch von Stoff und Darbietung erzeugt. Wenn diese Erregung jetzt aber szenisch überdeutlich ausgestellt wird, wie es Rasches Ästhetik entspricht, dann nimmt das dem Text jene Schnellkraft, die gerade aus der Latenz heraus ihre unvergleichliche Wirkung entfaltet.

Dabei hat sich der Regisseur für seine Verhältnisse ohnehin schon stark zurückgenommen. Statt eines wuchtigen Maschinenaufbaus gibt es diesmal nur die flache Drehscheibe auf der ansonsten leeren Bühne, an deren Rückwand gelegentlich drei leuchtende Riesenrechtecke für unterschiedliche Farbstimmung sorgen. Fast zu sehr zurückgehalten hat sich Rasche wiederum bei dem Versuch, das „Erdbeben in Chili“ als Text der Stunde zu präsentieren, als das Stück zum Corona-Hype quasi – obwohl doch gerade das sein erklärtes Ziel war. Erst gegen Ende des zweieinhalbstündigen Abends sind in den Text einige brandaktuelle Zitate hineinmontiert: unerträglich kitschige Deutungen der Seuche, die gerade im Kontrast zur wirklichen Katastrophe eines Erdbebens schon jetzt ihren Urhebern als peinliche Gschaftelhuberei um die Ohren fliegen. Ein Essay beispielsweise, der die Ausbeutung der Natur für die Entstehung des Virus verantwortlich macht, ist sehr klug neben jene Stelle gesetzt, wo bei Kleist ein Dominikaner-Prediger das Erdbeben zur Strafe Gottes für die Sünden der Menschen erklärt.

Solche aufschlussreichen Parallelen hätte man gerne mehr gehabt. Zeigen sie doch, dass vieles, was uns zur Seuche erzählt wird, bloß ein Neuaufguss der alten Ammenmärchen ist, der ewig gleichen Herrschafts-Narrative, die in leicht veränderter Gestalt stets wiederkehren auf der Drehscheibe der Geschichte. Heftiger Applaus des ausgedünnten Publikums.

Nächste Vorstellungen

am 4., 17. und 18. Oktober –sie sind ausverkauft.

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