Geburtstag in Corona-Zeiten? „Mir graut ein bisschen davor“, sagt Ingrid Noll. Wegen der Pandemie feiert sie ihren 85. Geburtstag heute im engsten Familienkreis. Nur zehn nahe Verwandte stehen auf der Gästeliste für ein Lokal in ihrer Heimatstadt Weinheim in Baden-Württemberg. „Zum 80. gab es noch ein großes Fest mit Familie, Freunden und Kollegen“, erzählt die Schriftstellerin wehmütig. Doch in ihrem Alter gehört sie selbst einer Risikogruppe an. Ein Mitglied ihres Chors ist im Zusammenhang mit Corona gestorben – ein Warnsignal. „Da wird die Bedrohung konkreter“, sagt Noll, die am 29. September 1935 in China als Tochter eines deutschen Arztes geboren wurde.
Maskenverweigerer findet sie rücksichtslos, auch wenn das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes sehr lästig sei. Sie folgt der Devise: Freiheit ist auch immer die der anderen. Mit den Verschwörungstheorien rund um die Krankheit kann Noll ebenso wenig anfangen. Wird sich das Virus in ihrem Werk niederschlagen? „Ich werde das so häufig gefragt, dass ich das schon aus Trotz nicht tun werde.“ Die Pandemie gepaart mit den Folgen des Klimawandels, dem Flüchtlingselend in Moria und den politischen Unwägbarkeiten in den USA treibt Noll um: „Überall ist der Teufel los – beim Zeitungslesen rege ich mich dauernd auf.“ Ihren vier Enkeln zwischen zehn und 20 Jahren kann die dreifache Mutter nur sagen, dass es ihnen vermutlich nicht besser gehen wird als ihren Eltern. „Ich hoffe, dass es ihnen zumindest nicht schlechter geht als ihren Eltern.“
In ihrem Anfang dieses Jahres veröffentlichten Kurzgeschichtenband „In Liebe Dein Karl“ gibt die Autorin auch etwas von sich preis: Witzig liest sich der Essay übers Älterwerden, berührend die schonungslose, aber liebevolle Auseinandersetzung mit der Mutter. In ihrer Erzählung „Butterhörnchen statt Croissants“ beschreibt Noll selbstironisch die ersten Anzeichen des körperlichen Verfalls: „Bei mir fing es schon Ende vierzig mit einer Lesebrille an, was mich damals aufs Tiefste beleidigte. Doch in diesem Fall konnte ich es nicht lange verdrängen: Die Nullen der Kontonummern verschwammen, ich brachte Hundefutter statt Thunfisch nach Hause und konnte unterwegs den Stadtplan nicht mehr lesen.“ Ihren aktuellen Gesundheitszustand beschreibt Noll als „Materialermüdung“: „Früher war ich fix dabei, To-do-Listen abzuarbeiten – heute muss ich Pausen einlegen, Augen und Gehör sind schlechter geworden – es hakt eben überall ein bisschen.“
Das tut ihrer literarischen Produktivität keinen Abbruch. Alle zwei Jahre erscheint ein Buch von ihr. Das Schreiben fällt ihr leicht: „Ich habe keinen ausgetüftelten Plan – ich muss den Kopf frei haben, am besten bei manueller Arbeit wie Bügeln, Gemüse-Schnippeln oder Unkrautjäten, dann kommen die Ideen.“ Das Schreiben halte sie mental fit, glaubt die Schriftstellerin, die erst im Alter von 55 Jahren damit anfing. 18 Werke sind von ihr seitdem erschienen. Und sie hat Chancen, noch viel zu veröffentlichen: Ihre Großmutter wurde 105, ihre Mutter 106 Jahre alt. Allerdings starb ihr Vater mit nur 55 Jahren an einem Herzinfarkt.
Das nächste Werk der Autorin scheint ein Krimi bewährter Art zu werden. Sie verrät nur so viel: Im Mittelpunkt steht eine von Minderwertigkeitskomplexen geplagte 30-jährige Altenpfle-gerin in einem Privathaus-halt, die nicht mehr an das persönliche Glück glaubt. Eine graue Maus, in deren Leben sich eine Wende andeutet. Ob das auf ein Happy End hindeutet? Bei Ingrid Noll wohl eher nicht. Die Autorin bestätigt das lakonisch: „Es gibt Tote.“