Er ist viele

von Redaktion

Tobias Kratzer wurde für den Bayreuther „Tannhäuser“ zum „Regisseur des Jahres“ gewählt

VON MARKUS THIEL

Je länger die Festspiele dauerten, desto größer das Pech der Kartenbesitzer. Kaum ein Durchkommen oder -schauen am Teich unterhalb des Bayreuther Hauses. Die Reihen dicht geschlossen, so warteten schon vor Pausenbeginn Touristen, Stadtbewohner und allerlei andere Interessierte auf Le Gateau Chocolat. Auf die Performance des schwarzen Travestiekünstlers, der unter anderem Elisabeths „Hallen-Arie“ aus dem „Tannhäuser“ im Bass dröhnte. So hatte sich das Regisseur Tobias Kratzer nicht gedacht mit dem zweimal einstündigen Pausen-Programm. Aber wenn etwas kultig wird, nimmt man das natürlich gern in Kauf.

Die Quittung hat der gebürtige Landshuter jetzt. Sein „Tannhäuser“, den er als tragikomisches Roadmovie eines Bayreuth-Aussteigers erzählte, wurde zur „Aufführung des Jahres“ gewählt. Und Kratzer selbst bekam in der alljährlichen Kritiker-Umfrage des Fachmagazins „Opernwelt“ den Titel „Regisseur des Jahres“. Wobei Bayreuth, die Festspiele, das geliebte und gehasste Haus, all das wollte er in seiner Inszenierung nicht allein thematisieren. Vor allem „um eine existenzielle, allgemeine Fragestellung“ sei es ihm gegangen. „Ein bisschen ist das, wenn man es nicht ganz so hoch hängen will, auch eine Udo-Jürgens-Story à la ,Ich war noch niemals in New York‘: der Mann, der kurz zum Zigarettenholen rausgeht und nicht wiederkommt.“

Als Kratzer dies alles erzählt, müsste eigentlich die Wiederaufnahme seines „Tannhäusers“ am Grünen Hügel laufen. Warum dies nicht geschieht, ist bekannt. Und dennoch ist der 40-Jährige auffallend gelöst. Man trifft sich in einem Münchner Café, Kratzer ordert Aperol Spritz plus Zwetschgendatschi mit Sahne. Und dann brechen wie immer bei ihm die Dämme. In einem Zeitraum, in dem andere zwei, drei Gedanken mit ebenso vielen Sätzen unterbringen, schafft Kratzer das Dreifache.

„Ich hatte, wenn man das so nennen will, Glück im Unglück.“ Ohnehin hatte er sich das Frühjahr für Vorbereitungen künftiger Produktionen reserviert. „Konkrete Probenarbeiten hat das bei mir also längst nicht so stark berührt wie im Falle mancher Kolleginnen und Kollegen.“ Überhaupt hat Kratzer, der als Teenie fürs „Freisinger Tagblatt“ schrieb und sich Geld für seine Opern-CD-Sammlung verdiente, eine Saison der Wechselbäder hinter sich. Daran ist er, der einst an der Bayerischen Theaterakademie in München studierte, selbst schuld.

Auf den üppigen, mit Videos und allerlei anderen Stilmitteln spielenden „Tannhäuser“ folgte im Herbst 2019 Rossinis radikal entschlackter, fast vernüchterter „Wilhelm Tell“ in Lyon. Seinen Londoner „Fidelio“ verlegte Kratzer in die französische Revolutionszeit, blieb aber nicht beim Historismus: Radikal wurden die Brüche von Beethovens einziger Oper ausgestellt. Es war Anfang März die letzte Premiere vor dem Lockdown, die weltweite Kino-Übertragung eine der Folgevorstellungen platzte.

Drei extrem unterschiedliche Premieren also. Es scheint, als ob Kratzer Angst vor dem Wiedererkennbaren, vor dem Personalstil hat – obgleich er immer mit Bühnenbildner Rainer Sellmaier und Videokünstler Manuel Braun arbeitet. „Ich versuche schon, die Ästhetik dem Stück anzupassen und nicht meiner Person“, sagt Kratzer. Es gebe keine „persönliche Abwechslungsstrategie“. Und dann schiebt er einen leicht vergifteten Satz nach: „Ein Zuschauer, der Wiedererkennbarkeit nur an der Oberfläche des Ausstattungsdekors, der Optik und der Metaphorik festmacht, dringt vielleicht auch nicht in die inhaltliche Substanz ein.“

Ich bin viele, das gab es schon zu Beginn von Kratzers Karriere. Eine Geschichte, die seitdem die Opernszene belustigt: Beim „ring.award“ in Graz, einem Regie-Wettbewerb, trat er 2008 mit seinem Team gleich zweimal an – und zwar in Verkleidungen als Ginger Holiday und Nedko Morakov. Manche reagierten irritiert bis verärgert, andere wie Jury-Mitglied Peter Konwitschny erkannten das Potenzial des schrägen Vogels aus Niederbayern.

Ganz praktische Gründe gab es für die Überdehnung der Regeln. Kratzer hatte einfach zwei, wie er fand, gleich gute Konzepte für Verdis „Rigoletto“. Aber da waren auch andere Überlegungen: offen sein und bleiben für Haltungen und diese auch durchspielen. All das also, was das Grundmotiv des Regie-Berufs ist. Eine „gewisse intellektuelle Eitelkeit“, räumt Kratzer ein. Die lebt er ja heute noch aus, auf eine sympathisch-eloquente Art. „Gegen sich selbst anzutreten, hat klarerweise etwas latent Narzisstisches. Aber dadurch, dass die Inszenierungen dem standgehalten haben, fand ich es im Rückblick okay.“

Artikel 7 von 7