Wenn Fotografie und Malerei Charleston tanzen

von Redaktion

Münchens Stadtmuseum zeigt „Welt im Umbruch. Von Otto Dix bis August Sander – Kunst der 20er Jahre“

VON SIMONE DATTENBERGER

Am Anfang dieses Jahres waren die „alten“ Zwanzigerjahre noch ein Riesenthema. Vergleiche wurden angestellt, Abweichungen analysiert, Chancen und Risiken abgewogen. Dann kam Corona – und all die historischen Pirouetten waren obsolet, vergessen. Nun im Herbst 2020 geht das Münchner Stadtmuseum gegen diese Ignoranz mit der umfangreichen Ausstellung „Welt im Umbruch. Von Otto Dix bis August Sander – Kunst der 20er Jahre“ vor. Und ist damit sogar prickelnd aktuell. Denn wir Heutigen schauen damit in einen Spiegel, der vieles veranschaulicht, klarer sehen lässt und, wenn er verzerrt, dadurch noch eindrucksvoller warnt.

Ulrich Pohlmann, der Leiter der Stadtmuseums-Fotosammlung mit Weltgeltung, hatte sich bei allen Zwanzigerjahre-Präsentationen daran gestört, „dass Fotografie und Malerei immer getrennt gezeigt werden. Nie wird der ästhetische Dialog zwischen beiden thematisiert – obwohl das damals sehr wohl so gesehen wurde.“ Das Projekt – rund 250 Kunstwerke plus wertvolle Fotopublikationen plus 30 Leihgaben – konnte er zusammen mit Katrin Baumstark vom Hamburger Bucerius Kunst Forum realisieren. Übrigens: Die furchtbar verwinkelte Schau im Haus am St.-Jakobs-Platz beweist schmerzhaft, dass das Museum zwingend umgebaut und saniert werden muss. Die Verzögerung durch den Stadtrat, ausgerechnet das Museum von und für Münchner Bürgerinnen und Bürger endlich zu retten, ist maßlos peinlich.

Bewundernswert, dass die Museumsleute da nicht mutlos werden. Das sieht man an dem imposanten Konzept „Welt im Umbruch“: großartige Fotos und großartige Gemälde, die fetzig Charleston tanzen. Neue Sachlichkeit und Neues Sehen verschmelzen zu einer künstlerischen Haltung und Einheit. Dabei kappt der virtuose Mega-Realismus nie kunsthistorische Verbindungen. Das Kunst-Myzel wuchert sogar zur altmeisterlichen Malerei etwa eines Dürers (Technik und Komposition), aber eben auch zu Abstraktion zwischen Konstruktivismus und Seriellem, Symbolismus, Surrealismus, Dadaismus, Reklame-Design. Die Aura der Präzision, der Oberflächen wird dabei von den Künstlern immer in überreales Flimmern versetzt. Damit wir merken: Was wir sehen, ist ja schön und gut; aber ist es das Wesentliche? Was sehen wir alles nicht? Was wollen wir nicht sehen?

Deswegen zeigen Fotografen wie August Sander, Erich Retzlaff oder Helmar Lerski abgehärmte Menschen, bisweilen sogar wie Helden oder Stars in extremer Nahaufnahme. Gemalt werden auch diejenigen, die nicht hübsch und wohlhabend sind, die das Leben ausgelaugt hat, die sich verkaufen müssen, ob auf der Straße oder in der Fabrik. Daneben gibt es die Lust am Blödsinn-Machen, am Spiel mit der Verkleidung, der Körperverfremdung – also am Verunsichern. Komik und Angst liegen oft nahe beieinander. Scheinbar gibt in dieser Lage die elegante und/oder machtvolle Welt der Dinge Halt. Die Schwungräder sausen indes ganz ohne Menschen. Wie heute (Roboter, Künstliche Intelligenz) gibt es die Vision, dass sich der Mensch überflüssig gemacht hat. Dazwischen suchen in vielschichtigen Selbstporträts schöpferische Menschen ihre Position in der neuen Ära. Otto Dix streckt gereizt das Kinn vor und zeichnet seine Augen wie Dolche, während sich Marta Astfalck-Vietz per Foto als Stummfilm-Säuferin, bedroht von einem finsteren Männergesicht, inszeniert.

Am Ende der Schau geht der Kampf richtig los: gegen die Feinde der Demokratie, gegen die Ausbeuter, gegen Hitler. Erwin Blumenfeld projiziert schon 1933 den Totenschädel auf dessen Gesicht…

Bis 10. Januar 2021,

Di.-So. 10-18 Uhr; 089/23 32 23 70; Katalog, Hirmer, im Museum: 29,90 Euro.

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