„Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder!“ So bringt es Carsten Niebuhr, Forscher, Sternenkundler und Kartograf, der 1764 im Auftrag des Göttinger Theologen Michaelis bei einer Orient-Exkursion auf der indischen Insel Elephanta strandet, auf den Punkt. Ihm begegnet dort neben ein paar schrulligen Ureinwohnern ausgerechnet der persische Astrolabienbauer Musa, der wegen einer Flaute ebenfalls ungewollt Elephanta besucht.
Gemeinsam nehmen sie das Leben, die Menschen und die Gestirne buchstäblich unter die Lupe. Die Blickwinkel und der Fokus aber sind verschieden: Während Niebuhr beispielsweise im Sternenbild der Kassiopeia eindeutig eine Frau erkennt, sieht Musa lediglich deren hennabemalte Hand – nur eines der zahlreichen Un- oder Missverständnisse der beiden.
Mit viel Humor, aber einer noch viel größeren Portion Klugheit lässt Christine Wunnicke in ihrem kleinen Roman „Die Dame mit der bemalten Hand“ mit Niebuhr und Musa Kulturen aufeinanderprallen, aneinander vorbeireden, sich gegenseitig niederphilosophieren und doch eine zuerst nur widerwillig ertragene Sympathie füreinander empfinden.
Europa trifft auf den Orient, der Christ den Moslem, der von Fieberträumen gequälte Idealist den von der Farbigkeit der orientalischen Sprache geprägten Rationalisten. Dabei jongliert die Autorin wie gewohnt verspielt mit Realität und Fiktionalität: Carsten Niebuhr und seine astronomischen Forschungsreisen hat es – auch wenn die Jahreszahlen nicht exakt stimmen – tatsächlich gegeben. Musa jedoch ist eine Erfindung der Münchner Schriftstellerin: ein schräger, wacher und raffinierter Vogel, der sich erst widerwillig, dann neugierig und schließlich fast rührend um den Europäer kümmert, dessen Reisegefährten buchstäblich auf der Strecke geblieben sind. Daraus entsteht nicht nur eine zarte Freundschaft, sondern vor allem ein herrlich-komisches Wirrwarr aus kulturellen Missverständnissen, Übersetzungsfehlern und sprachlichem Kauderwelsch, das nach vielen Hindernissen doch zu einer ganz speziellen, unterhaltsamen und gleichzeitig weisen Kommunikation führt.
Den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, eine der wichtigsten literarischen Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum, hat Wunnicke schon für dieses Werk erhalten. Jetzt steht das nur 168 Seiten dicke Büchlein auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2020. Zu Recht.
Christine Wunnicke:
„Die Dame mit der bemalten Hand“. Berenberg, Berlin, 168 Seiten; 22 Euro.