Ausgangspunkt für das spannende Ausstellungsprojekt der Staatlichen Graphischen Sammlung ist die aktuelle Neuerwerbung des Münchner Hauses: ein 1917 angefertigtes Selbstporträt von Max Beckmann. Nachdem sich der Künstler (1884- 1950) von einem Zusammenbruch während des Militärdienstes als Sanitäter 1915 erholt hatte und als geheilt aus dem Sanatorium entlassen wurde, fertigte er diese Tuschfederzeichnung an.
In dieser auf den ersten Blick schnell hingeworfenen Zeichnung wirkt Beckmann erstaunlich steif. Ein Auge geöffnet, das andere geschlossen, die Hände gefaltet, der Gesichtsausdruck indifferent. Der Maler zeigte hier so deutlich wie niemals sonst in seinem Werk die innere Zerrissenheit und Zerstörung, den physischen wie psychischen Zerfall nach den traumatisierenden Erlebnissen des Ersten Weltkriegs.
Der israelische Künstler und Filmregisseur Omer Fast, Jahrgang 1972, wurde nun gebeten, zu diesem Bild Beckmanns ein Projekt zu realisieren. „Abfahrt“ nannte er das Ergebnis, das in der Pinakothek der Moderne nun mehrere Räume umfasst. Betritt man den ersten, denkt man anfangs, hier sind die Aufbauarbeiten noch nicht fertig: An den Wänden des schmalen Ganges stehen Umzugskartons, Polsterfolie liegt herum, überall sieht man halb ausgepackte Gegenstände, Gipsköpfe, sogar eine Toilettenschüssel steht in einem der ansonsten genutzten Glaskästen. Doch hier hat sie längst schon begonnen, die clevere und originelle Assoziationskette des Omer Fast. Ein alter Holzschlitten, knallgrüne Plastikpantoffeln und jede Menge Koffer und Taschen lehnen um die Tür zu einer extra eingerichteten – beziehungsweise eben nicht eingerichteten – Wohnung. Er wollte diesen ungefähren, unklaren Limbus-Zustand einfangen, in dem sich Beckmann in der Zeit des Porträts befunden habe, erklärt Fast seine komplexe Installation.
Beckmann durchlebte damals eine Phase des Umbruchs. Das wollte er abbilden, sagt der Israeli, der seit Langem in Berlin zu Hause ist. Geschickt und anspielungsreich verschränkt er diese Ideen mit der Gegenwart, etwa mit dem Noch-nicht-AngekommenSein von Geflüchteten. Ein Staubsauger steht in der Ecke, die Matratzen lehnen daneben. Die Schubladen sind halb geöffnet, Handys liegen darin, auf denen kleine Dokumentarfilme zu sehen sind. Im Bad und auf dem Küchentisch stehen unausgepackte Kartons mit Gläsern, Handtüchern und Putzmitteln – oder wird das alles gerade erst eingepackt? Kommt hier eine Familie an, oder rafft sie gerade in großer Eile die wichtigsten Dinge zusammen? Fast lässt alles offen.
Doch je länger man sich mit den Gegenständen beschäftigt, die er auf der Online-Auktionsplattform Ebay ergattert hat, umso mehr Ideen zum Schicksal der abwesenden Menschen aus dieser Wohnung mit Terrasse und Grill entwickelt man selbst. Einfach und glücklich ist keine. Dafür sorgt Fast schon durch die – mal kurzen, mal längeren – Spielfilme, die auf diversen Leinwänden in den jeweiligen Räumen zu sehen sind.
Jeweils zehn Personen dürfen nach derzeitigen Abstandsregeln maximal gemeinsam in die Wohnung. Da könnten sich lange Schlangen am Eingang bilden. Aber das Warten lohnt sich. Sehr.
Bis 10. Januar 2021,
Di.-So. 10-18 Uhr,
Do. 10-20 Uhr;
weitere Informationen unter www.pinakothek-der-moderne.de.