Auf der Homepage des Tölzer Knabenchores läuft ein Trailer zur Talentsuche. Darin berichtet ein junger Sänger von seiner Arbeit auf den größten Bühnen und mit den wichtigsten Solisten. Er fügt hinzu: „Leider singe ich irgendwann so tief wie mein Papa.“ Tatsächlich ist die Suche nach Nachwuchs für kaum eine musikalische Formation derart entscheidend wie für Knabenchöre – eklatant sind daher die Probleme, vor die Covid-19 die Talentsuche stellt. Im Interview schildert Geschäftsführerin Barbara Schmidt-Gaden die Sorgen des Tölzer Knabenchores.
Was ist das Besondere am Tölzer Knabenchor?
Das liegt in seiner Gründung: Mein Vater war Praktikant beim Leipziger Thomanerchor. Dort machte er die Erfahrung, dass die Kinder im Internat ein sehr geregeltes Leben haben. Er kam dann mit der Idee nach Tölz zurück, dass es doch möglich sein müsse, Buben professionell die Freude am Singen zu vermitteln – und sie doch auch Kind sein zu lassen. Tatsächlich proben unsere Jungs nur zweimal zwei Stunden in der Woche plus einer Stunde Einzelunterricht. So lernen die Kinder ab dem Alter von sieben Jahren auf spielerische Weise das Singen als ein Handwerk, von dem sie ihr Leben lang profitieren.
Für keine Formation ist die Nachwuchsarbeit so wichtig wie für Knabenchöre – was bedeutet das für Ihre Talentsuche?
Der Stimmbruch setzt heutzutage früher ein als zu Bachs Zeiten – manchmal schon ab elf Jahren. Deshalb ist es umso wichtiger, unseren Nachwuchs so schnell wie möglich auszubilden, damit die Buben bereits im Alter von zehn oder elf auf großen Bühnen stehen können. Momentan proben unsere Solisten an der Semperoper in Dresden, am Opernhaus Zürich, an der Hamburgischen und natürlich an der Bayerischen Staatsoper. Durch Corona sind unsere Aktivitäten momentan natürlich regional eingeschränkt.
Inwiefern?
Vor Corona haben wir jährlich über 70 Grundschulen in München und dem Umland besucht. Weil wir jetzt nicht persönlich in die Klassen gehen können, haben wir rund 3600 Formulare verschickt, die an alle Erstklässler ausgeteilt wurden. Nun hoffen wir, die verschwinden nicht alle in den Rucksäcken der Kinder – bisher sind erst ein paar Anmeldungen eingetrudelt. Natürlich ist es etwas anderes, jemanden persönlich zu treffen. Deshalb bieten wir, neben der Möglichkeit eines virtuellen Kennenlernens, Termine in unseren Probenräumen in Obersendling an – lustigerweise residieren wir an der Tölzer Straße. Interessierte Kinder können uns mit ihren Eltern besuchen und beim gemeinsamen Singen den Spaß an der Musik erleben. Und natürlich wollen wir Begabungen ausloten: Wichtig ist vor allem das Gehör und die Fähigkeit, Melodien nachsingen können. Dabei suchen wir individuelle Stimmen.
Nicht nur das öffentliche Leben ist durch Corona massiv eingeschränkt – insbesondere das Kunst- und Kulturleben krankt an den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Singen wird zum verdächtigen Akt…
Als Mitglied im Chor des Bayerischen Rundfunks war ich an der Aerosol-Studie der LMU zur Untersuchung der Corona-Ansteckungsrisiken beim Singen beteiligt. Laut dem Zwischenstand der Forscher scheinen die Gefahren tatsächlich weniger dramatisch als befürchtet: Niemand schafft es, mehr als 1,5 Meter zu spucken. Tatsächlich produziert jeder Mensch selbst beim Sprechen eine Aerosol-Wolke; interessant ist, dass Profi-Sänger – und dazu zähle ich unseren Knabenchor – das offenbar besser kontrollieren können, indem die Luft überwiegend in Klang umgesetzt wird.
Im Trailer zur Talentsuche betont ein junger Sänger: „Wegen Corona brauchst du dir gar keine Gedanken zu machen.“ Wie sehen Ihre Hygienekonzepte aus?
Von der Desinfektion der Hände über ausreichend Lüften bei den Proben bis zu den Abstandsregeln halten wir die geforderten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ein. Allerdings hoffen wir doch sehr, dass die Situation nicht mehr lange andauert und endlich Normalität eintritt. Denn mit einem Abstand von zwei Metern können die Kinder das eigentliche Chorleben nicht wirklich erleben: wie viel Spaß es macht, neben jemandem zu singen und den Klang im Kollektiv zu spüren.
Mit Bezug auf die Nachwuchsprobleme in Knabenchören wird auch die Ergänzung der Sopran- und Altstimmen durch Mädchen diskutiert. Wie stehen Sie dazu in Anbetracht der Nachwuchssorgen, aber auch hinsichtlich gesellschaftlicher Forderungen nach mehr Diversität?
Einem „Tölzer Kinderchor“ stehe ich kritisch gegenüber – obwohl ich selbst als einziges Mädchen im Knabenchor meines Vaters von der professionellen Ausbildung profitiert habe. Zum einen haben Knabenchöre eine große Tradition mit entsprechendem Repertoire; zum anderen besteht in gemischten Chören immer die Gefahr einer Mädchenüberlast. Dazu kommt, dass Mädchen in ihrer Entwicklung sehr viel schneller sind. Ein 13-jähriger Junge befindet sich in der Blüte seiner Stimme – gleichaltrige Mädchen klingen da schon wie eine Frau. Ein gemischter Kinderchor ergibt für mich daher keinen großen Sinn. Viel eher würde ich die Idee unterstützen, mehr Mädchenchöre auf die Beine zu stellen – gerade nachdem der Münchner Mädchenchor leider Corona zum Opfer gefallen ist.
Der Trailer auf Ihrer Homepage endet mit dem „Halleluja“ aus Händels „Messias“: Ein Stoßgebet, um den Fortbestand des Tölzer Knabenchores zu beschwören?
In dem Moment, wo wir alle die Krise heil überstanden haben, können wir das „Halleluja“ gerne noch mal singen – das wäre ein passender Zeitpunkt.
Das Gespräch führte Anna Schürmer.
Weitere Informationen
unter www.toelzerknabenchor.de.