Ein kleiner Bub – viele Jahre ist es her – darf endlich auch mal ein Pferdchen gießen. Lange schon haben ihn im elterli-chen Betrieb in Pfaffenhofen an der Ilm die hölzernen Modeln fasziniert. Sie sparen Hände aus und Herzen, Schweine und Kröten, Wickelkinder und Köpfe. So schön diese mehr oder weniger fein gestochenen Hohlkörper sind, lebendig werden sie erst, wenn das heiße Wachs in sie fließen darf und sie danach eine kleine Skulptur gebären. Wie eben das Ross. Hans Hipp (Jahrgang 1949) hat dieser schöpferische Akt und alles, was damit zusammenhängt, nicht mehr losgelassen. Im Laufe seines Lebens hat er sich immer mehr in die Hintergründe von Form und Inhalt der Votivgaben, von Volkskunst und spirituellem Überbau eingearbeitet. Das Ergebnis liegt nun als schön gestalteter, facettenreich bebilderter und gut erklärender Bildband vor: „Wachs zwischen Himmel und Erde“ steckt voller Entdeckungen.
Hipp gehört einer Dynastie an, die am Pfaffenhofener Marktplatz residiert und auf zwölf Generationen Lebzelter und Konditoren blickt (auch Babykost). Das Gebäude selbst beherbergt seit 400 Jahren Lebzelter. Die Zunftordnung hatte allein ihnen und ihren Kollegen den Umgang mit den Bienenprodukten Honig und Wachs zugebilligt. Heute mag das wenig bemerkenswert erscheinen, in der vorindustriellen Zeit waren das jedoch Kostbarkeiten. In der frühen Neuzeit etwa konnte es vorkommen, dass ein Pfund Wachs das Zwanzigfache eines Pfund Fleischs kostete, berichtet der Autor. Aber ihn treibt nicht nur Handwerkerstolz an, sondern feines Gespür für eine verlorene Tradition, die auf keinen Fall vergessen werden soll.
Die Votivgaben seien „Zeugen kindlich-gläubiger Devotion. Aufklärerischer Hochmut mag darüber lächeln – und doch steckt eine tiefe geistig-symbolische Bedeutung hinter diesen Zeichen barocker Volksfrömmigkeit.“ Mehr noch, möchte man hinzufügen, denn das Ritual der Opfergabe verbindet die Menschen weltweit untereinander – und mit ihren Vorfahren vor zigtausend Jahren. Daher ist es wunderbar, dass Hans Hipp eine große Sammlung nicht nur von Modeln, sondern auch von den fragilen Wachs-Werken zusammengetragen hat.
Ihm war indes nicht nur das Sammler-, sondern auch das Forscherglück hold. Als er sich stärker mit dem Kontext der „wächsernen Hilferufe“ beschäftigte, stieß er auf die Bedeutung der Wallfahrtsstätte Niederscheyern und im Kloster Scheyern selbst auf zehn der sehr raren Mirakelbücher. Sie erzählen in über 20 000 kurzen Notizen aus 168 Jahren von der Not der Armen und Reichen, von Krankheit, Unwetter und Kriegsgefahr, von der Sehnsucht, Kinder zu bekommen, und der Angst, sie zu verlieren. Und sie erzählen von Unserer Lieben Frau von Niederscheyern, die geholfen hat. Selbstverständlich werden dabei die Bitt- und Dankgaben erwähnt. Da gibt es das Gebet – mehr haben Arme nicht –, da gibt es Geld, also „opfer in stockh“ und fürs Messe-Lesen, oder eben zum Beispiel ein „wäxernes haupt“: „Maria Neumayrin hatt ihr 10 Jähriges kindt, welchen beständig aus den ohren blueth gerunen, hiher verlobt…“ Das Kind wurde gesund.
Vor der Krankheit und vor der miserablen Medizin waren alle gleich. Hipp zeigt sich immer wieder erschüttert ob der Hilflosigkeit der Menschen damals. Was er bei den wächsernen Votivgaben (vom lateinischen „vovere“, auf Deutsch „geloben“) gespürt hat, wird durch die Mirakelbücher (1635 bis 1703) handfeste Realität, mit Namen, Berufen vom „Dienstmensch“ bis zum „kurfürstlichen Mund und Pasteten Koch“ sowie Daten. Und: Hipp kann seine Artefakte mit dem Alltag der Menschen seit dem Barock verknüpfen. Das wächserne Symbol für den Ort des Schmerzes, etwa Lunge, Gebiss, Bein, oder für den Schmerz selbst (Messer, Darmwinde) sollte ganz nahe am Altar sein, um Heilung zu bringen. Der weltlichen Medizin von Arzt und Bader war schließlich nicht zu trauen, wirklich helfen konnte nur die göttliche Kraft.
Darum war kein Votant begeistert, wenn die Kirchen seine Gabe irgendwann zu Kerzen einschmolzen. Die Lebzelter fanden schnell Abhilfe. Sie färbten das entweder naturgelbe oder weiß gebleichte Wachs rot ein. Damit war es für sakrale Kerzen tabu. So ging es wohl auch zu im einst sehr bekannten Wallfahrtsort Niederscheyern mit seinem Muttergottes-Gnadenbild (heute in der Pfarrkirche). Und da er nur zwei Kilometer von Pfaffenhofen entfernt liegt, konnten die Hipp’schen Vorgänger die Pilger mit einem großen Sortiment an Votiven bedienen. Wobei die Lebzelter die Holzmodeln selbst fertigten. Das erforderte wie das Gießen und Herauslösen aus der Form Fingerspitzengefühl. Natürlich war vieles seriell gefertigte Massenware, dadurch aber erschwinglich. Man goss den Model meist möglichst dünn aus.
Die Großkopferten konnten sich ganz andere Mengen von dem kostbaren Material leisten. Es haben sich noch einige riesige Kerzen oder teils lebensgroße Wachsfiguren erhalten. Hans Hipp zeigt sie ebenfalls in seinem Bildband. Die Plastiken besitzen künstlerische Ausstrahlung und wirken nicht so gruselig pseudo-lebensecht wie die Figuren von Madame Tussaud. Die hohen Herrschaften Bayerns brachten ihre Wachs-Stellvertreter vor allem in der Gnadenkapelle von Altötting unter, erklärt Hipp. Er weist uns darüber hinaus den Weg zu anderen Skulpturen, wie zum Beispiel zu denen von zwei Prinzen. Wir finden sie in der Münchner Frauenkirche in der St.-Benno-Kapelle. Kurfürst Maximilian I. (1573-1651) wurde auf seine alten Tage Papa – endlich. Die heiß ersehnten Söhne Maximilian Philipp Hieronymus und Ferdinand Maria Franz Ignaz Wolfgang knien bis heute in spanischer Hoftracht beim Stadt- und Landpatron. Das Gewicht des Wachses entsprach dem der Prinzen.
Diese große Dankesgeste war letztlich nichts anderes als etwa der kleine Fraisenkranz in Wachs, der gegen Epilepsie geholfen hatte, oder die wächserne Kuh mit Kalb, auf dass das Viecherl gesund werde. Die barocke Lust an der Darstellung, an der Magie der Form, wurde von Aufklärung und Säkularisation unterdrückt. In Altbayern steckt sie bis heute unauslöschbar.
Hans Hipp:
„Wachs zwischen Himmel und Erde“. Hirmer, München, 391 S.; 49,90 Euro.