Franz Maget, früher Bayerns SPD-Fraktionschef, hat nach seinem Abschied von der Politik als 60-Jähriger einen Neustart gewagt. Er zog 2016 nach Tunesien und arbeitete dort zwei Jahre lang als Sozialreferent an den Deutschen Botschaften in Tunis und Kairo. Über das, was er dort über die arabische Welt lernte, hat er jetzt ein Buch geschrieben: „Zehn Jahre Arabischer Frühling – und jetzt?“.
War das Schlagwort vom „Arabischen Frühling“ eine Irreführung? Schließlich endete er in den meisten Staaten in Krieg oder neuer Diktatur.
Der Arabische Frühling war eine Eruption der Unzufriedenheit vor allem junger Menschen. Und er war sicher eine Zäsur, auch wenn man heute feststellen muss: Außer in Tunesien haben sich die Dinge nirgendwo in der Region nachhaltig verbessert.
Tunesien unterscheidet sich auch wegen der Rolle der Frau von anderen arabischen Staaten. Der Frauenanteil im tunesischen Parlament ist höher als im Bayerischen Landtag, lernen wir in Ihrem Buch.
Die Gleichberechtigung der Frau steht in Tunesien schon seit der Unabhängigkeit 1956 nicht nur in der Verfassung, sondern wird auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit gelebt. Das hat Tunesien geholfen, sodass dort der Arabische Frühling ein Erfolg werden konnte – weil Frauen mitgemischt haben, weil es dort eine wache, kritische Zivilgesellschaft gibt.
Junge arabische Männer haben in Deutschland einen schlechten Ruf. Zu Recht?
Alle arabischen Länder sind patriarchalische Gesellschaften, selbst wenn das in Tunesien am wenigsten ausgeprägt ist. Die Geschlechterbeziehungen sogar unter jungen Menschen sind sehr verspannt. Deshalb sind junge Männer, die nach Europa kommen, mit einer ganz anderen gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontiert, mit der Einzelne schwer zurechtkommen und die manche vielleicht als Einladung zu Übergriffen verstehen. Deshalb muss man für diese Menschen, die zu uns kommen, klare Regeln setzen: Übergriffe auf Frauen sind bei uns ein Straftatbestand! Sie müssen einfach akzeptieren, dass sie ihre Regeln nicht zu uns importieren können.
Sie zitieren den „Arab Youth Survey“, wonach die Zustimmung der jungen Araber zu islamischen Parteien von 35 Prozent 2013 auf 25 Prozent 2019 gesunken ist. Ist das ein Trend, den Sie stützen können?
Das Religiöse spielt in den arabischen Ländern eine größere Rolle als bei uns. Die Moscheen sind dort voll, während bei uns die Kirchen leer sind. Deswegen sind überall dort, wo frei gewählt wurde, religiöse Parteien erfolgreich gewesen. Der politische Islam ist also eine wichtige Kraft – aber auch er hat es nicht geschafft, das Leben der Menschen fundamental zu verbessern. Bei vielen jungen Menschen steigt der Frust über schlechte Regierungspolitik. In den meisten Ländern dort liegt die Jugendarbeitslosigkeit über 30 Prozent. Deswegen wird es immer wieder Proteste geben. Und Migration.
Was können wir gegen diesen Drang zur Flucht nach Europa tun?
Wir müssen die wirtschaftliche Situation in diesen Ländern nachhaltig verbessern. Ich plädiere deshalb dafür, Tunesien und Marokko, die sehr weit gesellschaftlich fortgeschritten sind, enger an die EU anzubinden. Es wird nicht gut gehen, wenn der Unterschied zwischen der EU und Nordafrika ständig wächst.
Die superreichen Öl- Emirate bauen Ski-Hallen in die Wüste, aber sie nehmen kaum Geld in die Hand, um ihren „arabischen Brüdern“ zu helfen. Verstehen Sie, wenn viele Deutsche da sagen: Warum sollen wir Tunesiern oder Jemeniten unterstützen, das ist doch Sache der reichen Scheichs?
Die in der Tat reichen Golfstaaten haben durchaus große innenpolitische Probleme. Aber klar ist: Es gibt reiche Araber, die ihr Geld lieber in London oder der Schweiz parken. Die Region hat ein Eliten-Problem. Deshalb müssen wir die notwendigen Reformen in diesen Ländern immer wieder einfordern.
War es im Nachhinein ein Fehler, einen Diktator wie Gaddafi in Libyen mit westlicher Hilfe zu stürzen? Immerhin hatte er für Stabilität gesorgt…
Journalisten wegzusperren und Freiheit zu unterdrücken kann keine dauerhaft stabile Ordnung bringen. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn der Westen Diktatoren stürzen will. Nur: Sowohl in Libyen als auch im Irak hat ein klarer Plan gefehlt, was danach kommt. Die Idee, nach dem Sturz des Diktators führen wir freie Wahlen durch, dann haben wir Demokratie, ist naiv. Für den Übergang zur Demokratie braucht es eine wache und aktive Zivilgesellschaft. Die es in Tunesien gibt. Deshalb ist dort der Versuch der religiösen Kräfte zur Machtübernahme an einem Bündnis aus Gewerkschaften, Arbeitgebern und anderen Gruppen gescheitert – was zu Recht mit dem Friedensnobelpreis 2015 belohnt wurde.
Das Gespräch führte Klaus Rimpel.
Franz Maget:
„Zehn Jahre Arabischer Frühling – und jetzt?“
Volk Verlag, München,
192 Seiten; 15,90 Euro.
Buchpräsentation: Heute um 17 Uhr stellt Ex-SPD-Chef Martin Schulz das Buch in einer Online-Veranstaltung vor; Anmeldung unter https://www.fes.de/veranstaltungen/?Veranummer=250778.