Für J. K. Rowling, die Autorin von „Harry Potter“, ist ein Märchen wahr geworden: „Dass ich ins Königreich Schlaraffien zurückkehren und abschließen konnte, was ich vor langer Zeit begonnen hatte, zählt zu den schönsten Erfahrungen meines Lebens als Schriftstellerin.“
Entstanden war die Geschichte um das Land Schlaraffien, regiert von Fred dem Furchtlosen, das angeblich von einem schrecklichen Monster namens Ickabog bedroht wird, vor weit über zehn Jahren als Gute-Nacht-Erzählung für Rowlings eigene Kinder. Neben dem Harry-Potter-Ruhm völlig in den Hintergrund geraten, wurde das Märchen von seiner Schöpferin aber nie beendet, und so landete es zur Enttäuschung von Rowlings Nachwuchs auf dem Dachboden.
Als nun die Corona-Pandemie Kinder auf der ganzen Welt zwang, wochenlang getrennt von Freunden und Schulkameraden zu Hause zu bleiben, beschloss die Autorin, Schlaraffien wieder hervorzukramen und den Kampf um die Macht in dem einst so glücklichen Königreich endlich – so viel sei hier verraten – gut zu Ende zu bringen. Mehr noch: Sie stellte den Text im Sommer in insgesamt 26 Sprachen online, sodass Kinder ihn nicht nur lesen, sondern auch in einem offiziellen Wettstreit illustrieren konnten. Jede der Ausgaben erscheint nun geschmückt mit Bildern, die junge Leser des jeweiligen Sprachraums kreiert haben.
Ein Schmuckstück ist Rowlings „Ickabog“ dadurch geworden, das allein beim Betrachten der bunten Bilder fasziniert. Die Geschichte selbst ist aber – da seien alle Harry-Potter-Fans vorab gewarnt – weit weg von Hogwarts, fliegenden Besen und Zauberstäben. Rowling erzählt ein klassisches „Es war einmal“-Märchen vom eitlen König Fred, seinem Reich, in dem der Mythos vom grausamen Ickabog, der angeblich böse Kinder frisst, von zwei fiesen Halunken genutzt wird, um die Untertanen zu knechten, und den tapferen Kindern Wim und Lilli. Dabei ist die Autorin, was die Mittel betrifft, mit denen Angst und Schrecken erzeugt werden, nicht zimperlich. Wie schon bei den Gebrüdern Grimm wird ordentlich geschlagen und gehauen, gelogen und betrogen, gekämpft und auch gestorben. Echte Monster sind allerdings die Menschen selbst, deren Gier nach Geld und Macht das einst so harmonische Schlaraffien ins Elend stürzt.
Ganz nebenbei stellt Rowling dabei die wirklich relevanten Fragen des Lebens: Wie wichtig sind Vertrauen und Freundschaft? Warum schenken wir oft Lügen Glauben, ohne echte Beweise zu sehen? Wie schaffen es Einzelne, mit Drohung und Angst ganze Gruppen anderer einzuschüchtern und zu manipulieren? Und was bewirken Ungeheuer, die wir in uns selbst heraufbeschwören?
Spannend: So sehr der „Ickabog“ als einfaches Märchen daherkommt, gelingt es Rowling trotzdem, vom simplen Schwarz-Weiß-Schema Abstand zu nehmen. Da werden Raufbolde zu Freunden, eigentlich gut gesinnte Nachbarn zu bezahlten Spitzeln, sogar der gute Held Wim braucht eine Weile, um seiner Freundin Lilli Glauben zu schenken. Und der Ickabog selbst entpuppt sich letztlich als eine ganz andere Figur, als es der Leser erwartet hat.
Diese Geschichte kann das Monster Corona-Pandemie auch nicht bezwingen. Aber sie lenkt vielleicht in ein paar schönen Vorlesemomenten davon ab. Außerdem spendet die Autorin alle Honorare für dieses Buch einer Stiftung, die Menschen unterstützt, die besonders von Covid-19 betroffen sind. Vielleicht wird da dann tatsächlich für den ein oder anderen ein kleines Märchen wahr.
J.K. Rowling:
„Der Ickabog“.
Aus dem Englischen von Friedrich Pflüger. Carlsen, Hamburg, 352 Seiten, 20 Euro; ab acht Jahren.