Harte Musik für harte Zeiten

von Redaktion

Vor 40 Jahren erfanden junge englische Bands eine neue, wegweisende Welle des Heavy Metal

VON JOHANNES LÖHR

Lemmy Kilmister scherte sich nicht den Dreck unter seinen Cowboystiefeln darum, ob er Teil einer Jugendbewegung war. „New Wave of British Heavy Metal“ – was sollte das sein? Es waren die späten Siebzigerjahre, und Lemmys neue Band Motörhead hatte den härtesten, schnellsten Sound weit und breit. Deep Purple? Aufgelöst. Black Sabbath? Ein Schatten ihrer selbst. Led Zeppelin? Langweilig geworden. Da wollte er nicht von der Presse mit ein paar nostalgischen Grünschnäbeln in einen Topf geworfen werden. „We play Rock’n’Roll!“, postulierte der alte Hase, der schon als Roadie für Jimi Hendrix malocht hatte. Lemmy war klar: Heavy Metal ist tot.

Wie man sich täuschen kann. Heute ist Heavy Metal ein riesiges – und zuverlässiges – Musikmarktsegment. „2020 waren bislang 170 Metal-Alben in den offiziellen deutschen Charts platziert“, sagt Hans Schmucker vom Marktanalysten GfK Entertainment, „fast drei Mal so viele wie noch vor zehn Jahren“. Bemerkenswert ist: Die Musik und die Zeichensprache heutiger Bands lassen sich mühelos zurückverfolgen bis ins Jahr 1980. Das Jahr, in dem besagte Grünschnäbel – Iron Maiden, Def Leppard, Saxon und hunderte andere – mit ihrer neuen Welle endgültig im Mainstream angekommen waren.

Wie so viele kreative Schübe in der Popmusik entstand auch die Neue Welle des britischen Heavy Metal, weil junge Menschen – in diesem Fall hauptsächlich weiße Männer – zu viel Freizeit und keine Perspektive hatten. Englands Wirtschaft befand sich in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre im Sinkflug, die Schwerindustrie siechte dahin, junge Leute aus der Arbeiterklasse fanden selbst als ungelernte Hilfskräfte keine Jobs mehr. Punk mit seinem aggressiven Dilettantismus war da eine Möglichkeit, sich abzureagieren, Disco ein hedonistischer Sehnsuchtsort.

Doch gerade im ohnmächtigen proletarischen Milieu fand man die düster verzerrten Gitarrenwände des Heavy Metal, seine demonstrative Kraftmeierei, die fantasievolle Beschäftigung mit den unerquicklichen Aspekten des Daseins (und Jenseits!) nach wie vor anziehend. Und weil die alten Helden schwächelten, bildete sich eine landesweit verstreute Underground-Szene, die die alten Metal-Tugenden mit der Euphorie und Aggressivität des Punk kurzschloss. Man sei amateurhaft, aber ambitioniert gewesen, erinnert sich Biff Byford, Sänger der Band Saxon. „Es ist ein bisschen wie Facebook heute, wo jeder was postet und hofft, dass es viral geht.“

Wie so oft brachten die Medien alles auf einen Nenner – Journalisten prägten den Begriff der New Wave of British Heavy Metal und die sperrige Abkürzung NWOBHM – die allein schon verdeutlichte, was für ein babylonisches Durcheinander diese neue Härte eigentlich war: Da waren Def Leppard aus Sheffield, die klarmachten, dass sie irgendwann mal in Arenen spielen wollten (was ihnen Mitte der Achtziger auch gelang, als sie mit ihrem melodiösen Sound so viele Platten verkauften wie Michael Jackson). Am anderen Ende des Spektrums standen Venom aus Newcastle, die zwar ihre Instrumente nicht beherrschten und keinen geraden Takt spielen konnten, dafür aber ein infernalisch schnelles Gebolze vom Stapel ließen, während „Sänger“ Cronos von Tod und Teufel grunzte. Man habe nie Satan angebetet, sagte er später. All die spitzen Nieten, der Okkultismus seien nur Entertainment gewesen. „Wir wollten die Kiss aus Newcastle sein.“ Heute gelten Venom als Paten für sämtliche extremen Metal-Spielarten.

Allen Bands gemein war ihre Theatralik, der adoleszente Mummenschanz, den man an Heavy Metal seit jeher lächerlich finden kann: lange Haare, enge Hosen, die Texte – zumeist sexuell präpotente Oden an Wein, Weib und Geschrei oder aber tolkiensche Schlachtgemälde –, das männerbündlerische Pathos. All das schweißte die Szene damals zusammen und tut es noch heute. Mochten andere lästern – man war ein eingeschworener Stamm. Die Zeiten mochten hart sein – aber man war härter.

All die Vielfalt der neuen Welle zeigt sich exemplarisch in ihrer berühmtesten Vertreterin: der Band Iron Maiden. Deren Sänger Paul Di’Anno war ein junger Punk, der die hohen Noten nie so wirklich traf, eher das Organ eines Fußballhooligans hatte – und damit ganz gut zu dem Comic-Monster „Eddie“ passte, das die Plattenhüllen der Band zierte. Songwriter und Bassist Steve Harris dagegen komponierte vertrackte Mini-Opern. Fast folgerichtig schasste die Band Di’Anno bald für Stimmwunder Bruce Dickinson, mit dem sie zum Heavy-Metal-Prototyp avancierte. Dennoch: Nicht zuletzt dank Di’Annos Ungeschliffenheit gilt das Debütalbum „Iron Maiden“ als Kronjuwel der NWOBHM.

Die Platte erschien am 14. April 1980 beim Musik-Riesen EMI. Nach Jahren, in denen die Szene bestenfalls Singles auf obskuren Klein-Labels herausgebracht hatte, war 1980 das Jahr, in dem sie weltweite Beachtung fand, große Plattenlabels anbissen – und der Einfluss auf andere Bands deutlich wurde. Selbst eine Band wie Diamond Head, die ihr famoses Debüt bei keiner Firma unterbrachte, erlangte Ruhm, weil Metallica sie später als wichtigsten Einfluss nannten und ihre Songs coverten.

Plötzlich kam selbst Leben in Dinosaurier wie Black Sabbath, die mit dem neuen Sänger Ronnie James Dio „Heaven and Hell“ aufnahmen, eine ihrer besten LPs. Und auch Dios wegen Drogenexzessen an die Luft gesetzter Vorgänger Ozzy Osbourne zeigte mit seinem Solo-Debüt „Blizzard of Ozz“ erstaunliche Qualität. Judas Priest, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatten, präsentierten sich mit „British Steel“ auf der Höhe der Zeit. Und selbst AC/DC zeigten im Jahr 1980 mit ihrem Opus magnum „Back in Black“, dass nicht nur der Tod ihres Sängers Bon Scott, sondern auch die NWOBHM Spuren hinterlassen hatte. Kommerziell erfolgreich waren nur die wenigsten der jungen Wilden. Trotzdem: Sie definierten Heavy Metal, wie wir ihn kennen. Und sie sorgten damit letztlich auch dafür, dass Motörhead heute eine Popularität genießen wie niemals in ihren Anfangstagen. „Ace of Spades“, das berühmteste Album der Band – natürlich von 1980 – kommt nun in einer edlen Deluxe-Box heraus (siehe Kasten). Es wird sich bestens verkaufen. Aber das hätte den 2015 verstorbenen Grantler Lemmy womöglich noch weniger geschert als die Jugendbewegung, deren Teil er dann doch irgendwie war.

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