Grundversorgung mit Poesie

von Redaktion

Anton G. Leitner präsentiert online die neue Staffel der „Lockdown-Lyrik“

VON ALEXANDER ALTMANN

Auf den ersten Blick könnte man ja meinen, Dichter seien vom Lockdown weniger betroffen als andere Künstler. Schließlich arbeitet der arme Poet schon immer im Homeoffice, wie man es auch auf dem bekannten Spitzweg-Gemälde sieht. Andererseits ist aber mit Lyrik-Bänden in der Regel so wenig verdient, dass gerade Vertreter dieser literarischen Gattung auf öffentliche Lesungen und Auftritte als Geldquellen angewiesen sind. Um so generöser erscheint es da, wenn angesehene Dichter ihre Kunst nun kostenlos dem Publikum darbieten: Anton G. Leitner aus Weßling (Landkreis Starnberg), der nimmermüde Herausgeber der führenden deutschen Lyrik-Zeitschrift „Das Gedicht“, präsentiert jetzt im Internet eine neue Staffel der Reihe „Lockdown-Lyrik“.

Schon im Frühjahr, bei der ersten landesweiten Einsperr-Aktion, hatten Leitner und einige Mitstreiter ihre gute Vernetzung in der deutschen und internationalen Lyrik-Szene genutzt, um viele bekannte Dichter um Texte zu bitten, die direkt von der aktuellen Krisensituation angeregt waren. Auf der Internetseite dasgedichtblog.de wurden die Gedichte dann veröffentlicht. Der Leser hat so nicht nur kostenlosen Zugang zu hochkarätiger Poesie, sondern das gesamte Projekt ist quasi nebenbei auch noch von großer literaturwissenschaftlicher Bedeutung. Schließlich dokumentiert diese Online-Anthologie erstmals in der Geschichte in Echtzeit, wie Lyriker in ihren Werken direkt auf ein außergewöhnliches Geschehen reagieren, das wenigstens für die Hälfte der Menschheit momentan zum vordringlichsten Bewusstseinsinhalt wurde.

Und jetzt gibt es zum sogenannten Lockdown light also das zweite Care-Paket dieser nicht system-, sondern vielmehr lebensrelevanten Grundversorgung mit Poesie. Dass die alles andere als „light“ im Sinne von leichtgewichtig ist, zeigt ein Blick auf die Texte, zu denen laufend neue dazu kommen. Der Münchner Ludwig Steinherr beispielsweise fantasiert sich in ein menschenleeres, weil geschlossenes Museum, wo jetzt „Quarantäne für Götter“ angesagt ist: „Die Statuen in den leeren Sälen / verlieben sich in ihre eigene Einsamkeit / Sie essen die Ambrosia der Stille / Sie vermissen uns nicht“. Als kunstvolles Pingpong von Rhythmus, Zeilensprung und Binnenreim wiederum inszeniert die Kölner Dichterin Barbara Maria Kloos ihre assoziativen Wortverschränkungen. So entsteht eine Art Sprach-Trance, die jenen leicht pathologischen Geisteszustand, jenes wattige Fluten zwischen Angst und Wahnwitz vergegenwärtigt, das uns alle kollektiv befallen hat: „es fällt uns nachts wenn schlaflose ihr mantra summen / am morgen zwischen turteltauben tonnen es streift uns // auf dem göttersitz sag symphonie sag schlacht sag witz / es ist als hörte alles auf als finge alles an von innen her (…)“.

Sicher, ein Text wie Matthias Jeschkes „Gebet eben im Garten“ tendiert eher zum Corona-Kitsch, aber solche qualitativen Ausreißer sind in Anthologien völlig normal, ja fast notwendig. Viel wichtiger ist, dass man bei der Lektüre der Gedichte aus aktuellem Anlass wieder einmal die desinfizierende Wirkung der Lyrik bemerkt: Indem Dichtung die schillernde Vieldeutigkeit des Wortes erfahrbar macht, immunisiert sie gegen eine derzeit mehr denn je von der Unaufrichtigkeit der Floskeln infizierte, ja durchseuchte Sprache.

Information:

www.dasgedichtblog.de, Rubrik Lockdown-Lyrik.

Lyrik immunisiert gegen unaufrichtige Flosklen

Artikel 2 von 3