Ein krankes Kind und eine Mutter mit blühender Fantasie – dieser Kombination verdankt die Welt die kunterbunten Geschichten über Pippi Langstrumpf. Vor 75 Jahren, am 26. November 1945, erschien in Stockholm Astrid Lindgrens Buch über das Mädchen mit den roten Zöpfen, das mit Äffchen, Pferd und einem Koffer voller Gold in der Villa Kunterbunt lebt.
Eigentlich, erinnerte sich Lindgren (1907-2002) in ihrer Autobiografie „Das entschwundene Land“, habe sie nie Bücher schreiben wollen. Schon in ihrer Schulzeit sei ihr eine Schriftstellerkarriere prophezeit worden. „Das entsetzte mich derart, dass ich einen förmlichen Beschluss fasste: Niemals würde ich ein Buch schreiben.“
Doch dann, im Winter 1941, lag ihre Tochter Karin krank im Bett. „Erzähl mir was von Pippi Langstrumpf“, forderte sie die Mutter auf. Die ließ sich nicht lange bitten und erfand spontan das Mädchen mit den Superkräften. Neugierig, frech, Autoritäten ignorierend, geradezu anarchisch – Pippi war das Gegenteil dessen, was von Kindern damals erwartet wurde. Karin war begeistert, ebenso ihre Freundinnen, die von nun an gemeinsam den Geschichten lauschten.
Möglicherweise wäre es bei diesen Erzählstunden geblieben, wenn Astrid Lindgren nicht einige Jahre später, im Winter 1944, selbst hätte das Bett hüten müssen. Da war „dieser Schnee, der die Straßen glitschig wie Schmierseife machte. Ich fiel hin, verstauchte mir den Fuß, musste liegen und hatte nichts zu tun. Was macht man da? Schreibt vielleicht ein Buch? Ich schrieb ,Pippi Langstrumpf‘.“ Das Manuskript sollte ein Geschenk zu Karins zehntem Geburtstag am 21. Mai 1944 werden.
Die Ur-Pippi, die deutlich frecher und unangepasster daherkam als die schließlich veröffentlichte, sei keine Schablone für kinderpsychologische oder pädagogische Ansichten gewesen – „eher eine fröhliche Pazifistin, deren Antwort auf die Brutalität und Bosheit des herrschenden Zweiten Weltkriegs Güte, Großzügigkeit und gute Laune war“, schreibt Jens Andersen in seiner Lindgren-Biografie.
Im April 1944 reichte Lindgren das Manuskript beim schwedischen Verlag Bonnier ein. In ihrem Begleitschreiben skizzierte sie Pippi als „kleinen Übermenschen in Kindergestalt“. Dank ihrer übernatürlichen Kräfte sei das Mädchen vollkommen unabhängig von Erwachsenen und lebe ihr Leben so, wie es ihr gefalle, erklärte Lindgren. Ihr Brief endete mit der humorvoll formulierten Hoffnung, dass der Verlag schon nicht das Jugendamt alarmieren werde. Im September erhielt sie die Absage.
In den folgenden Monaten haderte die Autorin damit; dann, im Sommer 1945, reichte sie ein überarbeitetes und geglättetes „Pippi“-Manuskript für einen Kinderbuchwettbewerb des Stockholmer Verlags Raben & Sjörgen ein, bei dem bereits ihr Mädchenbuch „Britt-Mari erleichtert ihr Herz“ erschienen war. Sie gewann.
Im November 1945 erschien „Pippi Langstrumpf“ und wurde zu einem Riesenerfolg. Zunächst gab es aber auch harte Kritik. Pippi sei ein schlechtes Vorbild für Kinder, die Sprache teilweise vulgär, hieß es. Der schwedische Literaturkritiker und Pädagogik- und Psychologie-Professor John Landquist schrieb in „Aftonbladet“, kein „normales Kind isst eine ganze Sahnetorte auf oder geht barfuß auf Zucker. Beides erinnert an die Fantasie eines Irren.“ Lindgren sei untalentiert und unkultiviert, Pippi unnormal und krankhaft. Das Buch erscheine ihm wie „etwas Unangenehmes, das an der Seele kratzt“.
Das tat der Beliebtheit keinen Abbruch. Bis heute wurde das Buch in 77 Sprachen übersetzt und weltweit rund 66 Millionen Mal verkauft. Auch die Verfilmungen waren ein großer Erfolg. 75 Jahre nach ihrer Geburt ist Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf für eine ganze Generation eine Kindheitsheldin. Für Astrid Lindgren war sie der Beginn einer großen Karriere. „Ich wollte nicht Bücher schreiben“, sagte sie in einem Zeitungsinterview. „Aber als ich angefangen hatte, war es schwer aufzuhören.“