Der Universalpoet

von Redaktion

Kinolegende Jean-Luc Godard wird heute 90 Jahre alt

VON KATJA KRAFT

Erst einmal eine dicke Zigarre. Die gehört zu Jean-Luc Godard wie das schwarze Brillengestell auf seiner Nase. Es ist der 7. April dieses Jahres, und Godard macht, was er immer gemacht hat: Er probiert ein für ihn neues Medium aus. In diesem Falle Instagram. Per Live-Stream lässt die Kinolegende im Interview mit einem Dozenten der Filmhochschule Lausanne eineinhalb Stunden lang seine Arbeiten Revue passieren. Zieht immer wieder an dem glühenden Stumpen, Asche bröselt auf seinen grünen Pullunder. Ein alter Mann. Sichtlich gebrechlich. Aber gedanklich schon beim nächsten Projekt. Es soll dem Fotografie-Pionier Joseph Nicéphore Niépce gewidmet sein. Das passt. Denn Jean-Luc Godard, der heute 90 wird, ist selbst ein Pionier. Einer der Bilder, der Töne – und der unnachahmlichen Zusammenführung der beiden.

Am 3. Dezember 1930 kommt er in Paris zur Welt. Der Vater Schweizer Arzt, die Mutter aus einer großbürgerlichen französischen Familie. Den Großteil seiner Jugend verbringt Godard am Genfer See. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird er Teil der cinephilen Kultur in Paris. Die Frauen und Männer wie jener Freund, mit dem er immer wieder gemessen werden wird, François Truffaut (1932- 1984), schauen unentwegt Filme an, diskutieren darüber und gründen die Zeitschrift „Cahiers du cinéma“. Sie wird zum Forum für diese Generation. „Was mir am meisten an ihm auffiel, war die Weise, wie er Bücher verschlang“, erinnert sich Truffaut später an den jungen Godard. „Wenn wir abends bei Freunden waren, schlug er ohne weiteres bis zu 40 Bücher auf. Er las immer die erste und die letzte Seite. Wie wir alle war er vom Kino begeistert, aber er sah manchmal fünf Filme an einem Tag, weil er immer nur 15 Minuten lang blieb.“

Dieses Brodeln in ihm sucht ein Ventil – Godard findet es nicht in der Sprache (Trauffaut: „Damals hörte er schon zu reden auf. Er erklärte sich nie.“), er findet es in den Bildern. Der gescheite junge Kerl, der erst als Kritiker arbeitet – häufig unter dem Pseudonym Hans Lucas, das zeigt, wie sehr er dem deutschen Geistesraum zugeneigt ist – wechselt von der Kritik hinter die Kamera. „Als er 1960 mit ,À bout de souffle‘ (,Außer Atem‘) als Spielfilmregisseur debütiert, verändert er die Grammatik des Kinos von Grund auf“, schreibt Bert Rebhandl in „Jean-Luc Godard. Der permanente Revolutionär“, das nun erschienen ist (s. Kurzkritiken). Ein Film, der heute noch nachhaltig beeindruckt. Godard geht darin neue Wege: Er nutzt Handkameras, dreht in natürlichem Licht, wagt für die damalige Zeit vogelwilde Schnitte. Es ist eine Hommage an den amerikanischen Film noir. Doch bricht Godard schon in diesem ersten Meisterwerk mit der sauberen Oberfläche des Kinos: Der Dreck unter den Fingernägeln seines Hauptdarstellers Jean-Paul Belmondo ist Zeichen dafür.

Der Film gibt die kurvenreiche Linie vor: Godard geht es immer darum, vorherrschende Bilder zu verändern. Komplexe Ton-Bild-Montagen werden zu seinem Stilprinzip. „Außer Atem“ gibt der Novelle Vague, der neuen Welle des französischen Films, einen weiteren Schub. Er wird ein Riesenerfolg.

Es folgen weitere starke Stücke – „Eine Frau ist eine Frau“ (1961), „Die Verachtung“ (1963), „Elf Uhr nachts“ (1965) etwa –, bis er 1967 die „Groupe Dziga Vertov“ gründet und in diesem kollektiven Zusammenhang bis 1972 agitatorische Filme macht. Er erwartet vom Kino mehr als ein Spektakel zur Zerstreuung der Massen. Er erwartet, dass es die Qualitäten aller Künste vereint: „von Leonardo die wegweisende Hand, von Brecht die Zumutungen des Fragmentarischen, von Péguy den Blick auf die Geschichte“, schreibt Bert Rebhandl.

Das tut Godard bis heute. Ob mit seiner Darstellung der Gesamtheit menschlicher Erfahrungen in „Histoire(s) du cinéma“, ob in seinen experimentellen Fernsehserien oder den Kinoarbeiten in den Achtzigern mit Stars wie Isabelle Huppert und Alain Delon. Godard ist kein bloßer Regisseur, kein bloßer Drehbuchautor. „Man wird Godards Werk am besten gerecht, wenn man es als eine Universalpoesie begreift, die Bilder an die Stelle der Sprache setzt“, meint Rebhandl. Godard selbst hat es einmal so ausgedrückt: „Das Kino spezifiziert die Realität. Es wäre vergeblich, wollte es dem Augenblick etwas hinzufügen, was der Augenblick selbst nicht enthält.“ Er führt uns die Realität vor Augen – und wir erblicken: uns selbst.

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