Von Mördern und Märtyrern

von Redaktion

Kunst und Kapitalverbrechen – die Schau über Stoß und Riemenschneider ist verschoben, der Katalog liegt vor

VON SIMONE DATTENBERGER

Der Nürnberger Brauer Heinrich Deichsler (1507 gestorben) war nicht nur ein angesehener Bürger seiner Heimatstadt, sondern er interessierte sich auch für sie – als Chronist. Für den 4. Dezember 1503 notierte er: „da prent man den Veit Stoß durch ped packen und man hat nie keinen so lind geprennt.“ Wir erfahren also, dass der heute immer noch höchst bewunderte Bildhauer Veit Stoß gebrandmarkt wurde, angeblich vorsichtig (und – Pardon für den Scherz – dass vor 530 Jahren die Franken Konsonanten hart aussprechen konnten). Was uns grausig und pervers vorkommt, das Verletzen beider Wangen durch den Henker, war eine extrem abgemilderte Strafe des Nürnberger Rats, der deswegen lange herumgeeiert war. Denn Bürger Stoß hatte sich eines Kapitalverbrechens schuldig gemacht. „Kapital“ von lateinisch „caput“: Das heißt im Kontext von Verbrechen und Justiz: Kopf ab!

Frank Matthias Kammel, Direktor des Bayerischen Nationalmuseums (BNM), München, hat aus der Konstellation Genie und Schandtat ein Ausstellungskonzept um eine ästhetische Sensation komponiert. Die Präsentation „Kunst und Kapitalverbrechen – Veit Stoß, Tilman Riemenschneider und der Münnerstädter Altar“ sollte jetzt im Prunkbau an der Prinzregentenstraße bestaunt werden können. Der zweite Lockdown hat es verhindert.

Wer seine Vorfreude anstacheln will und/oder ein exquisites Weihnachtsgeschenk sucht, kann jedoch zum bereits erschienenen Katalogbuch greifen. Die Experten um Kammel und Matthias Weniger können uns naturgemäß mühelos von den genannten Künstlern erzählen, vom Altar in der Maria-Magdalena-Kirche, vom Franken-Heiligen Kilian, von kunsthistorischen Raffinessen – und außerdem von Kochlöffeln, irdenen Vasen, Schmuck und Richtschwertern inklusive Brandeisen. Denn das Nationalmuseum hat in seinen Depots so ziemlich alles „in echt“, was auf den Gemälden oder an den Skulpturen zu sehen ist.

Das ist freilich noch nicht die Sensation. Die ist eine grandiose Zusammenführung: Der 15 Meter hohe, aufklappbare Altaraufbau (Flügelretabel) von Tilman Riemenschneider (um 1460-1531) in der Münnerstädter Pfarrkirche und die Weiterentwicklung durch Veit Stoß (um 1447-1533) waren ab der Barockzeit zerfleddert worden. Einige Teile blieben am Ort, anderes ging nach Berlin und München. Das BNM kann seit 1901 insbesondere mit der so imposanten wie uns Heutige seltsam anmutenden Entrückung der fast komplett behaarten Maria Magdalena „angeben“. Nachdem seit vergangenem Jahr die Kirche St. Maria Magdalena saniert wird und deswegen die spätgotischen Kunstwerke herausgenommen wurden, gab es die Chance zur Wiedervereinigung auf Zeit. Kammel griff zu.

1492 hatte Riemenschneider die Magdalena mit den Engeln, die Heiligen Elisabeth und Kilian, die Evangelisten, die beiden Johannes und vier Reliefs mit Lebensszenen von Maria Magdalena geliefert. Dabei wurden wie so häufig die Frauengestalten Maria von Magdala (begegnete als Erste dem Auferstandenen) und „die Sünderin“, die Jesu Füße mit ihren Haaren trocknete, vermischt – genauso wie biblische Episoden und solche aus den Legenden (Einsiedlerin). Der Bildhauer hatte ganz auf Farbe verzichtet, um sein Können voll ausspielen zu können. Das gefiel zwölf Jahre später nicht mehr. Die Großkopferten von Münnerstadt (60 Kilometer nördlich von Würzburg), Kleriker vom Deutschen Orden, der Bürgermeister und der Stadtrat, suchten sich einen, der Farbe ins Spiel bringen sollte. Und das war ausgerechnet der Bildhauer (!) Veit Stoß. Vertraglich war festgelegt, dass er Riemenschneiders Arbeiten zu fassen und Gemälde von dem Martyrium des Heiligen Kilian beizusteuern hatte.

Stoß hätte sich nicht zieren können, denn er war aus Würzburg in die Heimatstadt seines Schwiegersohns geflohen. Zwar hatte er seine Strafe in Nürnberg schon bekommen, fürchtete trotzdem eine Hinrichtung. Der Künstler, der gern Investitionsgeschäfte tätigte, war betrogen worden. Um sein Geld von dem Trickser – der ihn noch einmal verriet – zurückzubekommen, hatte Veit Stoß einen Schuldschein gefälscht. Zwar exzellent, dennoch wurde er verhaftet, kam ins Lochgefängnis, wurde „peinlich“ verhört (Folter) und gestand. Der Bildschnitzer hatte viele Fürsprecher, sodass der Magistrat ausnahmsweise das Recht beugte. Veit Stoß entging dem Tod, den Kilian mit seinen Freunden Kolonat und Totnan erdulden musste.

Der Ire Kilian wurde um 640 geboren. Als Missionar verankerte er das Christentum in Franken. Er wurde wohl 689 ermordet. Die Heiligenverehrung setzte recht bald ein, forciert von den Karolingern. Die Legendensammlungen „Passio minor“ und „Passio maior“ erzählen eine dramatische Geschichte. Zunächst ist alles gut. Kilian kann Gozbert, Herzog der Franken, bekehren. Auf der ersten Tafel von Veit Stoß bahnt sich der Konflikt an. Kilian im Bischofsornat im engen Kontakt zum Herrscher, doch mit sorgenvollem Gesicht mahnend. Gozbert hatte Gailana, die Witwe seines Bruders, geheiratet; in Ordnung nach germanischem und römischem Recht. Unruhig lauscht sie dem Disput, denn Kilian pocht auf das jüdisch-biblische Recht, wonach diese Ehe als Inzest betrachtet wird.

Auf dem zweiten Bild wird die Herzogin aktiv, sie dingt zwei Mörder. Ihr Kastellan (großer Schlüsselbund) und ihr Koch (großer Löffel; solche zeigt das Nationalmuseum auch) sind begeistert. Die Handbewegungen der Dame verheißen schließlich gutes Geld. Auf dem dritten Gemälde metzeln die Killer mit Richtschwert und Schindermesser die heiligen Männer beim Gebet nicht sehr professionell nieder, wovon Wunden am Kopf zeugen.

Stoß betonte nicht wie andere Maler schockierende Details, er beließ es in seiner komplexen Komposition vor allem bei einem Wirbel von Aktionen und Gewändern. Die Strategie der drangvollen Enge, die die seelisch-sündige Bedrängung spürbar macht, behielt der Künstler auf der vierten Tafel bei. Der Mord wendet sich im Angesicht von Gozbert, der nicht mehr zu richten braucht, gegen die Mörder. Der Kastellan durchbohrt sich mit dem Schwert, der Koch frisst sich selbst, und Gailana wird von einem Höllenmonster in die Lüfte gerissen.

Experten sehen in dieser Vorgehensweise den Bildhauer im Maler am Werk. Wir freuen uns indes vor allem, diesen Maler überhaupt kennenlernen zu dürfen. Die Tafeln sind die einzigen Gemälde von Veit Stoß – und garantiert eigenhändig geschaffen.

Frank Matthias Kammel (Hrsg.):

„Kunst und Kapitalverbrechen – Veit Stoß, Tilman Riemenschneider und der Münnerstädter Altar“. Hirmer Verlag, München, 240 Seiten; 39 Euro. Die Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum, München, öffnet möglicherweise ab 10. Januar.

Katalog-Sonderverkauf: An diesem Samstag, 11-17 Uhr, ist der Katalog dort im Foyer für nur 29 Euro erhältlich.

Artikel 2 von 8