Auf dem Beethoven-Teppich

von Redaktion

Historische Aufnahmen der neun Symphonien und der Violinsonaten

VON GEORG RUDIGER

Der Dirigent Hermann Scherchen (1891-1966) galt als das Gewissen der Moderne und besaß ein eigenes elektronisches Tonstudio. Seine zwischen 1951 und 1954 für das amerikanische Label Westminster entstandenen Mono-Aufnahmen von Beethovens Symphonien und Ouvertüren, die in erstaunlicher Tonqualität remastered wurden, zeigen, dass der Pionier der zeitgenössischen Musik auch bei einem Klassiker Neues entdeckt.

Scherchen verzichtet auf jedes Pathos, sondern setzt auf Beweglichkeit, rhythmische Präzision und überwiegend rasche Tempi, die sich an Beethovens Metronom-Angaben orientieren. Deutlichkeit ist Scherchen wichtiger als Differenzierung. Trotz der klaren dirigentischen Handschrift gibt es bei den insgesamt acht CDs deutliche Qualitätsunterschiede, was auch an den verschiedenen Orchestern liegt.

Die Aufnahmen mit dem Royal Philharmonic Orchestra begeistern auf der ganzen Linie. Die zweite Symphonie verbindet im Kopfsatz Eleganz mit Wucht, das Finale in Beethovens Originaltempo machen die aufgerauten Streicher zum Ereignis. In der Dritten, der Fünften und der Achten gefällt der natürliche musikalische Fluss und die zwar theatralische, aber ganz unpathetische Lesart. Die „Pastorale“ dagegen leidet unter Scherchens Al-fresco-Zugriff und der schlechten Intonation der Holzbläser. Besonders die Klarinetten des Wiener Staatsopernorchesters sind deutlich neben der Spur.

Auch der eher behäbigen Siebten, der zu grobschlächtigen Ersten und den „Leonore“-Ouvertüren fehlt es an Präzision und Klasse. Dafür ist eine echte Referenzaufnahme als Bonus-CD beigelegt – die Einspielung der „Eroica“ aus dem Jahr 1959 in atemberaubenden Originaltempi. Die Wiener Hörner brillieren, das Finale hat Sogwirkung. Was alle Interpretationen gemeinsam haben, ist die besondere Herausarbeitung der Melodie, die Scherchen exemplarisch im Adagio cantabile zeigt – ein eindringlicher, weit ausholender Gesang.

Diese Betonung des Melos verbindet die spannenden Hördokumente mit den historischen Aufnahmen der Violinsonaten Beethovens durch Wolfgang Schneiderhan und Carl Seemann vom Mai 1959 aus dem Wiener Musikvereinssaal. Klangschönheit geht dabei dem Wiener Geiger (1915-2002) und dem in Bremen geborenen Pianisten (1910-1983) über alles. Jeder einzelne Ton wird von Schneiderhan vibriert, kaum ein Lagenwechsel ist zu hören.

Seemanns Spiel besticht durch ein warmes Legato, mit dem er einen weichen Teppich auslegen kann wie beim ersten Satz der „Frühlingssonate“, auf dem sich der Violinklang ohne jede Anstrengung frei entfaltet.

Das Zusammenspiel der beiden Hochschulprofessoren, von denen auch Aufnahmen der Brahms- und Mozartviolinsonaten vorliegen, ist vollendet. Die enge Verwobenheit der beiden Stimmen, exemplarisch zu hören im Presto der Sonate in Es-Dur op. 12 Nr. 3, ist in jedem Moment erlebbar. Dass die musikalischen Extreme in der Dynamik und Artikulation nicht berührt werden, ist eine bewusste Entscheidung der Interpreten, macht aber diesen Beethoven aber auch gelegentlich zu glatt.

Das Einheitsvibrato von Schneiderhan lässt Fragilität gar nicht erst aufkommen. Es fehlt wie im Adagio molto espressivo der A-Dur-Sonate op. 30 Nr. 1 das Geheimnis, die überraschende Wendung. In der „Kreutzer-Sonate“ verlassen die beiden die Komfortzone. Da darf der Bogen auch mal kratzen, da werden Entwicklungen zugespitzt wie im nervösen, immer nach vorne treibenden Presto. Gut so.

Ludwig van Beethoven:

Symphonien Nr. 1-9, Ouvertüren, Hermann Scherchen. Violinsonaten Nr. 1-10, Wolfgang Schneiderhan, Carl Seemann

(Deutsche Grammophon).

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