Als Kritikerin müsste man es machen wie Victor Klemperer – nicht lange lamentieren, gleich vernichten. Sein Resümee zum Film „Das Schiff der verlorenen Seelen“: „Ganz wüster Schundroman. Räuberschiff, Meuterer, ein junger Arzt, eine gescheiterte Ozeanfliegerin in höchster Gefahr – natürlich gerettet u. sich kriegend. Aber große Kanonenbesetzung. Kortner der brutale Kapitän, Marlene Dietrich die Fliegerin. Schlimm!“ Zehn Zeilen – und alles gesagt. Den Film kann man sich sparen.
Victor Klemperer (1881-1960), bekannt für seine Tagebücher aus den Jahren 1933-1945, durch die er zu einem der wichtigsten Chronisten deutscher Geschichte wurde, hatte eine große Leidenschaft: das Kino. Nele Holdack und Christian Löser machen jedem, der diese Leidenschaft teilt, nun eine große Freude. Sie haben Klemperers Kinotagebuch aus den Jahren 1929 bis 1945 herausgegeben. Es sind die Zeilen eines wahrhaft Filmliebenden. Und obwohl Klemperer, hochgebildet und später Professor für Romanistik, also Intellektueller durch und durch war, überlässt er im Kinosaal nie einzig der Vernunft die Oberhand. Während das Bildungsbürgertum anfangs die Nase rümpft über die Filmchen auf der großen Leinwand, sieht Klemperer sie als eigene Kunstform an. Die als solche auch bloße Unterhaltung, heitere Ablenkung sein darf.
Solange die Umsetzung stimmt. Es ist ein großer Spaß, seine Urteile über die Streifen zu lesen, in denen das nicht der Fall ist. Dann formuliert er so schöne Sätze wie „Bis auf ein paar hübsche Kostüme und Szenenbilder ein durchaus wertloses Machwerk“ („Madame Bovary“, 1937) oder „Der übliche Operettenblödsinn“ („Die Drei von der Tankstelle“, 1931). Wenn’s nicht ganz schlecht ist, kommentiert Klemperer trocken: „Mindestens nicht uninteressant“ („Die Lady von der Straße“, 1929).
Das ist kurzweilig zu lesen und historisch interessant. Nicht nur, weil Klemperer neben den Lichtspielhaus-Besuchen stets das Zeitgeschehen kommentiert, er befasst sich auch mit den technischen Entwicklungen. Äußerst kritisch stehen er und seine Frau Eva dem aufkommenden Tonfilm gegenüber. Klipp und klar hält er in Bezug auf den „Hauptmann von Köpenick“ (1931) fest: „Hier kann man nicht mit der Bühne wetteifern. Stummer Film ist Kunst für sich, Tonfilm ist schlechter Ersatz des Theaters.“ Trotzdem versuchen sie, aufgeschlossen wie sie sind, es immer mal wieder. Doch noch 1931 urteilt Klemperer: „Er war scheußlich u. wir beschlossen weiteren Boykott. Scheußlich die entstellten Stimmen, die das Wenigste, das Belanglose langsam u. mechanisch herausquetschten.“
Er setzt auf Charlie Chaplin. In dessen Werk „Lichter der Großstadt“ (1931) erkennt der Stummfilm-Begeisterte eine Verspottung des Tonfilms – „a) durch die Rede zur Denkmalweihe, von der man kein Wort versteht, b) durch die von Chaplin verschluckte Pfeife, die immer zu pfeifen beginnt, sooft der Vortragende bei einer Soirée loslegen will“. Doch auch hier gibt es einen Haken: „Sehr schön – aber kein Fortschritt. Und ich glaube auch nicht, dass es bei Chaplin noch eine Weiterentwicklung gibt.“ Es dauert noch einige Monate, ehe er nach dem Besuch von „Der blaue Engel“ zugibt: „Hier gab mir der Tonfilm viel.“
Dazwischen die Zeichen der Zeit: „Heilgebrüll, ausgestreckte Faschisten-Arme und Hände“. Ab 1933 werden Kinobesuche zunehmend von Nazipropaganda begleitet. Es sind vor allem die Stunden in den Lichtspielhäusern, in denen das Ehepaar Klemperer sich noch am ehesten frei fühlt. „Ich bin so sehr gern im Kino; es entrückt mich“, schreibt Victor am 20. März 1933. Doch fünf Jahre später wird ihm auch dieses letzte Stückchen Freiheit genommen: Ende 1938 wird Juden der Kinobesuch verboten.
Die Bilder aber aus all den Jahren, sie retten ihn durch die dunklen Stunden. Als er für einige Tage inhaftiert ist, findet er Trost in der Erinnerung: „Noch einmal kam mir das Empfinden Kino und dazu die Erinnerung an zahllose Bilder, komisch und tragische des Gefangenen in seiner Zelle.“
Noch vor der Kapitulation am 8. Mai sitzt Klemperer wieder im Kinosessel, trotz großer Lebensgefahr.
Victor Klemperer:
„Licht und Schatten“. Aufbau Verlag, Berlin, 363 Seiten; 24 Euro.