Der verlorene Sohn

von Redaktion

Maggie O’Farrells berührender, intensiver Roman über die Familie von William Shakespeare

VON MELANIE BRANDL

Ausgerechnet er, bis heute eine Ikone des Theaters, quasi der Klassiker schlechthin, schrumpft bei Maggie O‘Farrell zur nicht besonders sympathischen Nebenfigur: William Shakespeare ist nur der „Lateinjunge“ – erst ein blasser und unscheinbarer Lehrer, später als Theatermacher weit weg vom Geschehen im entfernten London verschwunden.

Der eigentliche Star ihres historischen, an wahre Gegebenheiten zumindest angelehnten Romans ist Shakespeares Frau Agnes. Den Zeitgenossen im 16. Jahrhundert aufgrund ihrer Selbstbestimmtheit und ihres Wissens um die Heilkunst suspekt, dominiert diese soziale Außenseiterin die lebendig erzählte Geschichte. Sie sucht ihn sich aus, den siebzehnjährigen, schmächtigen Lateinlehrer, der für seinen zur Gewalt neigenden Vater, einen Handschuhmacher, eher Schande denn Stolz ist. Sie küsst ihn, bevor er sich seiner Gefühl klar wird. Und sie ist schwanger, bevor irgendwer die Hochzeit verhindern kann.

Die nordirische Autorin Maggie O‘Farrell lässt den großen ersten Teil der Handlung auf zwei Zeitebenen spielen. Zu Beginn der 1580er-Jahre lernen sich Agnes und William entgegen aller gesellschaftlichen Widerstände kennen und lieben. Sie bekommen drei Kinder: Susanna und später die Zwillinge Judith und Hamnet. 1596 dann wütet in England die Pest. Auch Agnes’ Familie bleibt davon nicht verschont. Als seine Zwillingsschwester plötzlich fiebert und sich Beulen an ihrem Körper zeigen, versucht Hamnet panisch, Hilfe zu bekommen. Der Vater ist in London am Theater, die Mutter im Wald bei ihren Bienen und niemand anders zur Stelle. Hamnet verzweifelt am Leiden der Schwester – um schließlich selbst der Seuche zu erliegen.

Der zweite, kürzere Teil des Romans widmet sich der Trauer um das Kind. Die Familie zerbricht schier an diesem Leid. Agnes fühlt sich schuldig, Hamnet nicht gerettet zu haben. Ihr Mann flieht vor Verzweiflung zurück nach London und stürzt sich in seine Theaterarbeit, der er, mit kurzen Unterbrechungen, künftig sein komplettes Leben weiht. Und was ist ein Zwilling, dessen Zwilling stirbt? Niemand kann Judith die Frage beantworten.

Vier Jahre später feiert ein großes Drama Premiere, das bis heute Säle füllt: „Hamlet“. Ob Shakespeare damit wirklich den – historisch verbürgten – Verlust seines Sohnes verarbeitet hat, ist in der Literaturwissenschaft bis heute umstritten. Maggie O´Farrell jedenfalls gesteht ihm das zu und schenkt ihrem berührenden, intensiven Roman, für den sie berechtigterweise den britischen „Women‘s Prize of Fiction 2020“ erhielt, damit ein tröstliches, auf eine ganz eigene Art auch versöhnliches Ende.

Maggie O‘Farrell:

„Judith und Hamnet“. Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag. Piper, München, 416 Seiten; 22 Euro.

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