Das Schweigen der Lemminge

von Redaktion

Schauspieler Christian Berkel stellt seinen zweiten Roman in einer virtuellen Lesung vor

VON KATJA KRAFT

Die fesche Tante Lola hat es begriffen. Ganz ohne Begleitung eines Pianolas trällert sie in ihrer leichtfüßigen Art heraus, was das verdammte Problem ist. Von Ada und von Adas Mutter. Ach was, von zwei ganzen Generationen. „Egal, wie sehr ich jemanden hasse, ich muss versuchen, ihn zu verstehen, ich muss ihn nicht akzeptieren, aber ich muss versuchen, ihn zu verstehen – mir zuliebe“, flötet Tante Lola und fragt dann, als ob nichts sei: „Dessert?“

Ja, wer sich seinen Dämonen stellt, der wird mit süßer Nachspeise belohnt. Doch als ob das so einfach wäre. Christian Berkel erzählt in seinem aktuellen Roman „Ada“ sehr klug und mit Sinn für die menschliche Psyche vom Hang der Mehrheit der Menschen, lieber zu verdrängen, als sich drängenden Fragen zu stellen. Und kommt zuletzt mit Adas unkonventioneller Tante Lola zu der wesentlichen Erkenntnis: Der Hass der Achtundsechziger auf die schweigende Eltern-Generation ist nachvollziehbar, doch er bringt sie ebenso wenig weiter, wie die Eltern das Schweigen weitergebracht hat. Echte Aufarbeitung gelingt nur im Dialog. Am Ende muss dann gar nicht ein Verzeihen stehen – ein Verstehen ist oft schon sehr viel. Vor allem für einen selbst. „Mir zuliebe.“

Dieses „Mir zuliebe“ schwebt wie eine behutsame Empfehlung des Autors zwischen den Zeilen. Christian Berkel selbst hat sich seinen Dämonen gestellt. Mit dem autobiografisch geprägten Roman „Der Apfelbaum“ debütierte der Schauspieler vor zwei Jahren als Schriftsteller. Es war eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Und nun spinnt er den Faden weiter. Der 63-Jährige widmet sich deutscher Geschichte, genauer: den Schrecken des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges, die politisch und historisch zwar in großen Teilen aufgearbeitet scheinen, doch in den einzelnen Familien noch immer nachwirken.

Seine Hauptfigur Ada ist wie ein weibliches Pendant von Forrest Gump. An ihrem Leben verfolgen wir deutsche Geschichte mit. Denn scheint ihr Schicksal auch ein individuelles, es ist doch Teil eines großen Ganzen. Bei all den wichtigen historischen Momenten der jungen Bundesrepublik ist Ada zugegen. Der Bau der Berliner Mauer 1961, die Krawalle beim Rolling-Stones-Konzert auf der Waldbühne 1965, der Schah-Besuch in West-Berlin 1967, Mord an Benno Ohnesorg, Woodstock, Mauerfall. Es sind Marken auf ihrem und auf dem kollektiven gesellschaftlichen Weg.

Was Ada all die Jahre über begleitet, ist das Schweigen der Mutter über die Vergangenheit. Über ihr Judentum, über die Frage, ob Adas Vater Otto wirklich Adas Vater ist. Oder ist es doch Hannes, dieser Mann, den sie noch aus Kindheitserinnerungen vor sich sieht, aber über den nur flüsternd gesprochen wird?

Jede Frage wird abgeblockt, jedes Aufbegehren im Keim erstickt. „Ihr habt ja keine Ahnung. Ihr glaubt, ihr wisst Bescheid? Ihr wisst es nicht“, zischt Adas Mutter, wenn die Tochter doch einmal den Mut hat, die Stimme gegen sie zu erheben. Das Mädel antwortet mit der einzig richtigen Feststellung: „Woher auch.“

Dass dieses ständige Unterdrücken nur in einem großen Knall enden konnte – in den Jugendrevolten, der RAF, den Drogenexzessen, der freien Liebe, dem Hang nach dem kompletten Gegenentwurf zum Leben der Kriegsgeneration – macht Berkel kunstvoll erzählt klar. Und führt das Drama der Nachkriegsgeneration vor Augen: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ heilt das eigene Seelenleid nicht. Ada muss erkennen, dass sie auch im Widerstand nicht zu sich selbst findet – und erst recht keine Antworten auf ihre Fragen. „Wir trugen die Fackel weiter und merkten es nicht.“

Ein anrührender, lebenskluger Roman, mit dem Christian Berkel ein weiteres Mal beweist, dass er kein schreibender Schauspieler ist, sondern ein Schriftsteller, der noch dazu fantastisch schauspielen kann.

Christian Berkel:

„Ada“. Ullstein Berlin, 400 Seiten; 24 Euro.

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