Wie beschreibt man einen außergewöhnlichen Menschen am besten? Wahrscheinlich mit den Augenblicken, mit denen niemand rechnet. Bei Armin Mueller-Stahl zum Beispiel ist es beispielhaft der Moment, in dem er beschließt, sein Glück in Hollywood zu machen. Dazu muss man wissen: Der Mann geht da schon auf die 60 zu und spricht kein Englisch. Trotzdem nimmt er das Angebot wahr, bei „Music Box“ von Constantin Costa-Gavras mitzuwirken. Ein paar Jahre vorher hat Mueller-Stahl noch kühl die Hauptrolle des Dr. Brinkmann in der „Schwarzwaldklinik“ abgelehnt. Damit wäre er gut versorgt in den Ruhestand geglitten. Man legt Mueller-Stahl die Absage als Arroganz aus und das späte Hollywood-Experiment als Größenwahn.
Mueller-Stahl lässt sich nicht beirren und behält Recht: Mit seinem nächsten Film „Avalon“ und dem darauf folgenden, gefeierten Gastauftritt im Kult-Opus „Night on Earth“ wird er der bekannteste deutsche Schauspieler in der Traumfabrik. Ein Vierteljahrhundert spielt er in großen Hollywood-Projekten mit und heimst 1997 eine Oscar-Nominierung für „Shine“ ein. Längst lebt Mueller-Stahl die meiste Zeit des Jahres in Los Angeles, auch wenn er keine Filme mehr dreht. Übrigens nicht weit weg von der ehemaligen Residenz Thomas Manns, den er so meisterhaft in „Die Manns“ (2001) verkörpert.
Das freundliche Wetter dort gefällt ihm gut, lässt er lakonisch wissen, und dass man so wenig Menschen mit DDR-Vergangenheit trifft. Mit Deutschland oder vielmehr den verschiedenen Deutschlanden, die er kennengelernt hat, fremdelte Mueller-Stahl immer ein wenig. Das „Dritte Reich“ und sein sinnloser Krieg hat ihm den Vater genommen, jenen gewitzten Bankangestellten, der sich aus Müller in Mueller-Stahl umbenannt hatte, ganz einfach, um dem versnobten baltischen Adel im heimatlichen Tilsit zu beeindrucken. Die DDR raubt dessen Sohn den Glauben an Freundschaft und Loyalität, und Westdeutschland zermürbt ihn mit dem kulturellen Mittelmaß. Im wiedervereinten Deutschland immerhin fühle er sich am wenigsten unwohl – aber grundsätzlich bleibe er Weltbürger aus Überzeugung. Man merkt schnell, Mueller-Stahl ist keiner, der um Zuneigung buhlt.
Er schuldet niemanden etwas und umgekehrt. Es ist ja wahr: Der Mann hat sich alles hart erarbeitet. Nach dem Krieg studiert er in Berlin-West Musik. Gleichzeitig schreibt und malt er leidenschaftlich. Einmal mehr überraschend will er doch Schauspieler werden. Dass ihn eine Schauspielschule ablehnt, stachelt ihn erst recht an. Ein ostpreußischer Sturkopf eben, der mit penibler Vorbereitung und eiserner Disziplin das vermeintlich mangelnde Talent kompensiert. Wiederum sehr überraschend wechselt Mueller-Stahl in die damalige DDR, das Theater dort sei eben besser. Schnell wird er einer der beliebtesten Stars im Osten und spielt bald Charakterrollen. Richtig populär wird er mit der Fernsehreihe „Das unsichtbare Visier“ als eine Art Ost-James-Bond. Und ähnlich wie der Original-Bond Sean Connery legt sich Mueller-Stahl schnell eine alterslose Aura zu, die ihm erlaubt, fast sechs Jahrzehnte im Geschäft zu bleiben.
Als er 1976 gegen die zwangsweise Ausbürgerung von Wolf Biermann protestiert, wird er von der DDR-Führung auf Eis gelegt. Kaum noch Aufträge für den Mann mit den leuchtend blauen Augen, man will Mueller-Stahl nicht mehr. Er bereut den Schritt nicht. „Lieber einen Knick in der Karriere als im Rückgrat“, sagt er. 1980 lässt man ihn nach West-Deutschland ausreisen, wo Mueller-Stahl sofort ebenfalls zum Star wird. Rainer Werner Fassbinder besetzt ihn; dem Chaoten Fassbinder gefällt die Verlässlichkeit von Mueller-Stahl. Wenn man so will: dessen preußische Tugenden. Die schweren Themen und großen Bögen bleiben das Thema von Mueller-Stahl, zwischendurch wird mit Fernsehen ein wenig Geld verdient. Er verfällt dem Firlefanz des heimischen, mitunter provinziellen Promi-Zirkus freilich nie. Dafür ist er zu klug, zu reflektiert.
Und dann eben: USA. Einfach so, mit diesem selbstbewussten Gestus, der so typisch ist für Mueller-Stahl. Die US-Amerikaner mögen Typen wie ihn. Profis, die wissen, was zu tun ist und welche Aufgabe sie in einer Geschichte haben. Nebenrollen oft, aber eben welche, die sich oft einbrennen. Irgendwann hat er genug Verhandlungsmasse, um sich die schönsten Einzeiler ins Drehbuch schreiben lassen zu können. „Der Unterschied zwischen Wahrheit und Fiktion ist: Die Fiktion muss einen Sinn ergeben“, darf er in „The International“ mit hintersinnigem Lächeln sagen. Heute feiert der Schauspieler, Maler, Schriftsteller und aufrechte Mensch Armin Mueller-Stahl seinen 90. Geburtstag.