Geniales aus der Isolation

von Redaktion

Der Ex-Beatle und Jahrhundertmusiker legt sein drittes McCartney-Album vor

VON JOHANNES LÖHR

Wenn Paul McCartney zu sich selbst findet, kratzen sich manche seiner Fans am Kopf. 1970 und 1980 hat er bereits Alben veröffentlicht, die nur seinen Nachnamen trugen. Beide Male klangen sie nicht so, wie er für viele seiner Verehrer zu klingen hatte. Sondern freier. Spontaner. Mitunter sperriger. Jetzt, mit 78 Jahren, hat der wichtigste lebende Komponist zum dritten Mal nur den „McCartney“ im Titel. Und auch diesmal gibt es für die, die ihn einzig aus dem Classic-Rock-Radio kennen, ein paar Brocken zu schlucken. Für alle anderen ist „McCartney III“, das heute auf den Markt kommt, ein großes Vergnügen.

Los geht’s mit einer simplen Gitarrenfigur, die über einem lebhaft akzentuierten Rhythmus tanzt wie zu einem indischen Raga. „Long tailed Winter Bird“ heißt der Song. Der Sänger lässt lange auf sich warten, bis er eine hypnotische Litanei mehr flüstert als anstimmt: „Do you, do-do, do you miss me? Do you, do-do, do you feel me?“ Rückwärts abgespulte Flöten gesellen sich dazu wie einst bei den Beatles auf LSD. Der Ton ist gesetzt: Sir Paul ist in Experimentierlaune. Er muss nur seinem Anspruch als Künstler genügen und sonst niemandem. Genau wie auf seinen anderen „McCartney“-Alben, die eben deshalb die Zeit so gut überdauert haben.

Zunächst bekam er dafür aber eins auf die Mütze: Paul McCartneys erstes Solowerk litt 1970 nicht unwesentlich darunter, dass er bei Erscheinen ganz nebenbei erwähnte, die Beatles seien Vergangenheit. Die LP bestand aus charmanten Schnipseln aus dem Heimstudio – und dem Hit „Maybe I’m amazed“. Für viele ein zu kleiner Wurf nach den zurückliegenden Großwerken mit den „Fab Four“. „McCartney II“ schreckte 1980 manchen mit Synthesizer-Experimenten ab. Die Songs klangen mitunter wie Kraftwerk im Bällebad.

Doch auch hier gab es ein Stück, auf das sich alle einigen konnten: „Coming up“ war zeitgeistig auf New Wave getrimmt – und beeindruckte sogar John Lennon. So sehr, dass er sich aus dem Ohrensessel schälte und selbst wieder Musik aufnahm, um es dem alten entfremdeten Freund gleichzutun. Lennons Ermordung am 8. Dezember 1980 verhinderte mehr gegenseitige Inspiration.

Teil drei der „McCartney“-Trilogie erscheint nun wenige Tage nach dem Medienrummel um den 40. Jahrestag des Mordes – wie’s der Zufall will und nicht etwa aus Marketingkalkül. Wer konnte ahnen, dass eine weltweite Pandemie den berühmten Liedermacher wieder in eine Isolation zwingen würde? Diesmal keine selbst gewählte wie 1970 und 1980 – aber nicht weniger fruchtbar. Die Corona-Quarantäne habe dazu geführt, dass McCartney an bereits vorliegenden Songskizzen weiterarbeitete, berichtet sein Label. Herausgekommen seien „minimalistische Stücke, natürlich von ihm selbst produziert, und wiederum Solo-Aufnahmen im Wortsinn“.

Einmal mehr nahm „Macca“ alle Instrumente selbst auf, auch sonst quatschte keiner rein. „Ich habe eigentlich nur herumgealbert“, sagte er der BBC. „Nicht für eine Sekunde habe ich gedacht, dass das ein Album werden könnte.“ Die Ergebnisse sind erstaunlich. Sehnige Bluesrocksongs wie „Lavatory Lil“ (mit Böser-Buben-Chor) und „Slidin’“ scheinen von aktuellen Bands wie den Arctic Monkeys inspiriert zu sein – Letzterer donnert fast Metal-mäßig aus den Boxen. Aber natürlich ist das hier eine Pop-Platte, und keiner kann Pop besser. „The Kiss of Venus“, eine mit brüchigem Falsett gesungene Ballade, und der gebrummte Gospel „Women and Wives“ zeugen davon.

Überhaupt hat diese so prägende Stimme des 20. Jahrhunderts Risse bekommen. Und trotzdem singt McCartney effektiv wie selten. So wie im Schlüsselstück „Deep deep Feeling“, das er anfangs wie zeitgenössischen R&B angeht. Daraus entwickelt sich eine achtminütige Meditation über die Schmerzen der Liebe. „Sometimes I wish it would stay, sometimes I wish it would go away“, wiederholt McCartney zu wechselnden Metren und immer psychedelischer verhallten Soundeffekten – bis seine kratzige Stimme klingt wie Gandalf Graurock, der Zauberer. Ans Ende stellt McCartney augenzwinkernd eine Coda, in der er das Lied als beatleske Ballade klampft, nach dem Motto: Ich könnte das auch so bringen – aber ist es anders nicht viel spannender?

Die neue Musik habe „Echos der Pandemie“, sagte McCartney. Und tatsächlich gibt es grüblerische Zeilen. Selbst dem unbestrittenen Hit der Platte, „Seize the Day“, ist die Vergänglichkeit eingeschrieben. Irgendwann werden die kalten Tage kommen, das Ende wird nahen, und wir werden uns wünschen, dass wir mehr aus unserem Leben gemacht hätten. Im letzten Song, dem bereits in den Neunzigern mit Beatles-Produzent George Martin eingespielten „When Winter comes“ singt McCartney davon, wie er sein Anwesen winterfest machen, die Lämmer und Hühner gegen hungrige Füchse einhegen, Feuerholz trocknen und die Lager auffüllen will. Die Endzeit-Idylle eines Jahrhundertmusikers.

Im Nachgang etablierten sich Paul McCartneys Soloalben als Meilensteine. Das erste war eine trotzige Emanzipation von den Beatles. Das zweite ein mutiges Experiment; und das letzte, auf dem man ihn als Künstler auf Höhe seiner Zeit wahrnahm. Nach Lennons Tod wurde er ungerechterweise als „Paul McCartney, lebende Legende (aber nie so brillant wie die tote Legende)“ abgestempelt. Was für ein Unsinn das ist, zeigt einmal mehr dieser locker hingeworfene Geniestreich. McCartney ist eine Klasse für sich. Und er ist am besten, wenn er niemandem mehr etwas beweisen will.

Paul McCartney:

„McCartney III“

(Universal).

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