Hinterfotziges Weihnachtsmärchen

von Redaktion

PREMIERENKRITIK Bukowskis München-Stück „Marienplatz“ online aus dem Resi

VON ALEXANDER ALTMANN

Keine Frage, früher war mehr Lametta. Aber „früher“ war eben vor dem Lockdown des Christkindlmarktes auf dem Münchner Marienplatz. Insofern sollte man hübsch bescheiden und dankbar sein, dass der Weihnachtsbudenzauber ansatzweise und mit weniger Lametta nachgebaut wurde, als Kulisse im Theater nämlich. Theater ist zwar eigentlich auch verboten, aber nur analog, während es digital, das heißt via Internet, noch ein paar Zuckungen machen darf.

Darum hat jetzt also auch das Münchner Residenztheater seine erste große Online-Premiere veranstaltet – nicht wie bisher nur für 15 Zoom-Zuschauer, sondern für alle, die dabei sein wollten: Wer um einen frei wählbaren Betrag zwischen null und hundert Euro eine „Karte“ erwarb, bekam einen Link zugeschickt, über den sich der virtuelle Vorhang öffnete. Als Stream sah man dann die Uraufführung von Beniamin M. Bukowskis metaphysischer München-Groteske „Marienplatz“, und um das gleich zu sagen: Es hat sich gelohnt.

Denn der erfolgreiche polnische Nachwuchsautor (Jahrgang 1991) versteht es, Leichtes und Schweres, Erschütterndes und Komisches zu einer geschmeidigen Einheit zu verbinden, die alles andere als oberflächlich oder glatt wirkt. Von der Theodizee, also der Frage, wie Gott das Böse zulassen kann, bis zur Butterbreze als Ausdruck des München-Gefühls reicht das thematische Spektrum des religiös grundierten Stücks. Da geht es um den biblischen Stammvater Abraham, der sich auf Gottes Geheiß anschickt, seinen Sohn Isaak zu opfern. Es geht um die Erlebnisse eines polnischen Autors in München, der wie Bukowski selbst auf Einladung des Residenztheaters mehrere Monate in der Stadt lebt, um ein Stück zu verfassen. Tragikomisch wirkt dann die Episode, in der Gott in einer Sitzung beim Psychotherapeuten von seinen Selbstmordgedanken berichtet.

Wirklich beklemmend sind hingegen die Szenen, in denen bedrohlich mit dem Benzinkanister hantiert wird, weil sie die Geschichte jenes Mannes aufgreifen, der sich vor drei Jahren um fünf Uhr früh auf dem Marienplatz selbst verbrannte. Ein Vorfall, den die meisten von uns schon wieder vergessen hatten, was zeigt, wie gut es ist, wenn gelegentlich jemand von außen kommt und mit völlig anderen Augen auf München blickt.

Dass der Regisseur András Dömötör mit ebenso viel Sinn fürs Poetisch-Skurrile wie fürs Erschreckende aus diesem Abend quasi das Weihnachtsmärchen für Erwachsene macht, wirkt ebenso kongenial wie hinterfotzig. Auch was die Ausstattung angeht, hat man keine Mühen gescheut, um wunderbar schräge Adventsstimmung zu simulieren. Die Christkindlmarkt-Buden sind mit künstlichen Eiszapfen und Kugelgirlanden bestückt, aufblasbare rote Riesenkerzen dienen als Sitzgelegenheit, und ein glitzerflauschiger Schneemann darf auch nicht fehlen.

Wenn dann zwei Schauspielerinnen Polizisten darstellen, setzen sie riesige Christbaumkugeln auf, die mit ihren Sichtfenstern wie Astronautenhelme anmuten; zudem klimpern die überzeugenden Akteure oft allerliebst auf Xylofonen hell klingende Melodien. Daneben tritt eine Münchner Stadtführerin auf, die sich mit Goldlocken sowie Strahlenkranz als Christkind verkleidet hat, und selbst die knallbunten Steppanzüge, in denen hier fast alle stecken, haben natürlich etwas dezidiert Winterliches an sich – auch wenn sie zugleich an die Schutzbekleidung von Sportfechtern erinnern. Was insofern passt, als der Autor die Sprache gelegentlich als Florett benutzt, etwa wenn es heißt: „Alles, was wir sagen können, sagen wir über uns selbst.“ Für solche Sätze nimmt man einen Mangel an Lametta schon mal in Kauf.

Weitere Online-Aufführungen

am 27. und 30. Dezember; https://www.residenztheater.de/resi-streamt.

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