Aufatmen nach langer Abstinenz

von Redaktion

„Schwanensee“ als tröstendes Glückserlebnis

Staatsoper.tv – an diese Online-Adresse wird man sich gewöhnen müssen. Gerade jetzt, da Corona heftigst auftrumpft. Und Überraschung! Ray Barras Münchner „Schwanensee“ (1995), auf der Nationaltheater-Bühne gefilmt, kommt bestens vom Bildschirm rüber. Auf die Live-Atmosphäre muss man verzichten. Dafür erlebt man dank Christoph Engels Bildregie die Tänzer wunderbar nah.

Ausdruck und Technik werden sogar unerbittlich offengelegt und hier zum Glückserlebnis: Das Staatsballett, bis hinein ins Corona-bedingt verschlankte Schwanen-Corps, tanzt in glanzvoller Form. Die ganze Aufführung wirkt wie ein befreites Aufatmen nach harter Auftritts-Abstinenz. Ray Barras von altbackenem Hofzeremoniell radikal entstaubte Version geht klug unmittelbar hinein in die junge feierfreudige Adelsgesellschaft. Die wirft sich zu Tschaikowsky (Tom Seligman am Pult) mit Bravour in den schrittdichten Pas de six, lässt aber schon Gefühlsspannungen erahnen: Prinz Siegfried scheint wenig interessiert an seiner Verlobten, von Laurretta Summerscales schon im vergangenen September technisch-darstellerisch souverän getanzt.

Für Jinhao Zhang war es damals ein wahrscheinlich mangelhaft geprobtes Siegfried-Debüt. Man kann’s gern vergessen: Seine immer schon exzellente Partnerarbeit ist jetzt noch raffiniert-sicherer geworden (einmalig, wie er die Ballerinen, in der Taille gehalten, blitzschnell pirouetten lässt). Seine Brio-Technik und die dramatische Geste sind nun zugeschliffen auf aristokratische Eleganz. Und dann Ksenia Ryzhkova erstmals hier als Odette-Odile! Über Technik braucht man bei ihr nicht zu reden. Sie kann alles. Aber sichtbar ist: Das Jahr im Ballett Zürich war eine Chance, sich als Künstlerin zu finden.

Ihre Odette ist jenseitig, jedoch verhalten, ganz ihrem Naturell entsprechend. Sie hütet sich vor Ballerinen-Pathos. Die Macht Rotbarts (nachtschattig von Emilio Pavan), die Tragik ihres Gefangenseins, das legt sie vor allem in ihre Ports de bras. Von ihrer Odile wünscht man sich eine Spur mehr Verführungsglamour. Aber das kommt – Ksenia Ryzhkova ist erst 26. Die Charaktertänze aus Russland, Spanien und Italien, solistisch hochkarätig besetzt, hier so plastisch gestaltet zu sehen, das tröstet über die Zweidimensionalität des Bildschirms hinweg. MALVE GRADINGER

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