Nein, nicht nachmachen. Nicht fertige Törtchen mit Milch, Obst, Kakaopulver und allerlei anderem Zeugs in den offenen Elektromixer schmeißen. Die durchgeknallte Frau mit dem schweren Orangenhaut-Leiden darf kein Vorbild sein – ohnehin hat sie ja nur ihre Hauptspeise im Sinn: knusprige kleine Kinder.
Seit 2013 steigt an der Bayerischen Staatsoper die Hänsel-Gretel-Horror-Show. Die Inszenierung von Richard Jones, schon vorab an anderen Häusern erprobt, streckt der Tradition die Zunge raus, so wie es einmal auf dem Zwischenvorhang zu sehen ist. Statt händchenhaltender Kinder gibt es Geschwisterchen unter ADHS-Verdacht, statt dunklem Tann Dunkelmänner mit Baumkronenköpfen, das Sandmännchen geistert als ausgemergelte Hungerpuppe durch die Szene. Starker Tobak ist das, auch im suizidalen Frust einer überforderten Mutter. Was am Ende mit der Hexe passiert, haben schon Tausende Nationaltheater-Besucher erlebt, es sei trotzdem nicht verraten. Gebrüder-Grimm-Orthodoxe mögen sich mit Schaudern wenden, für Kinder jeglichen Alters ist alles ein schräger Spaß. Erst recht in dieser Besetzung, die von der Bayerischen Staatsoper als frisch aufgezeichneter Internet-Stream ab Weihnachten ausgestrahlt wird.
Kevin Conners gibt sicht- und hörbar animiert die Hexe als adipöse Tootsie-Version – wobei er sich nicht ins Deklamieren flüchtet, sondern die knifflige Partie tatsächlich singt. Emily Pogorelc ist als Gretel halbwegs vernünftige Schwester und lässt für Connaisseure einen Sopran vom Allerfeinsten hören, der nach Größerem drängt. Tara Erraught ist als herrlich überdrehter, dennoch schönstimmiger Hänsel mit Lust an der Riesensauerei seit der Premiere dabei. Okka von der Damerau (Mutter Gertrud) muss nur die Bühne betreten, schon gilt automatisch alle Aufmerksamkeit ihr. Milan Siljanov (Vater Peter) wirkt so, als liege seine Hänsel-Phase nicht allzu lang zurück.
Friedrich Haider, eigentlich für eine nun abgesagte „Fledermaus“ gebucht, lässt es nicht aus Engelbert Humperdincks Partitur triefen. Das hat Zug und Geschmack, ist dank des Staatsorchesters sehnig und schlank musiziert. Während der Ouvertüre und in den Zwischenspielen darf man Ensemble und Dirigent bei der Arbeit beobachten. Überhaupt bietet der Stream Opern-Mehrwert: So nahe kommt man diesem Chaos sonst nie. MARKUS THIEL