Außergewöhnlich – das ist das Wort, das am Anfang und am Ende dieses Textes stehen muss. Denn es braucht einige Zeit, um sich auf Christina Hesselholdts Schreibstil einzulassen. Besonders jedoch, wer seit 2007 die spektakuläre Entdeckung der US-amerikanischen Hobbyfotografin Vivian Maier (1926-2009) mitverfolgt hat, wird sich durch das Roman-Porträt „Vivian“ bereichert fühlen.
Daher lohnt es sich, vor oder während der Lektüre die gefeierten Dokumentarfilmbilder von John Maloof und Charlie Siskel, „Finding Vivian Maier“ (2013), und natürlich auch originale Fotos der gebürtigen New Yorkerin anzusehen. Um ein Gespür zu bekommen für diese sonderbare Einzelgängerin, die ihre Biografen vor die Frage stellt: Hasste oder liebte sie die Menschen?
Als Kindermädchen und Haushälterin von zweifel-, ja boshaftem Ruf reiste Vivian Maier – je nach Laune unter anderem auch Viv, Vivienne, Miss Maier oder V. Smith genannt – zeit ihres Lebens quer durch die USA. Hauptsächlich aber fing sie dabei die Menschen auf den Straßen, ob arm oder reich, vergnügt oder krank, mit ihrer Rolleiflex in einer für eine distanzierte Skeptikerin erstaunlichen privaten Empathie und Nähe ein. Erst postum – durch Zufall hatte der Freizeithistoriker John Maloof einen Koffer mit 150 000 unentwickelten Negativen ersteigert – gingen diese Bilder um die Welt. Erst postum wurde Vivian Maier für diese Bilder berühmt. „Sie hätte es gehasst“, schmunzeln ihre Wegbegleiter.
Doch auch sie hatten diese Frau so undurchschaubar und verschlossen wie ihre Dachkammer erlebt; niemand, wohl nicht einmal sie selbst, hatte um das gut behütete Talent darin gewusst. Die dänische Autorin Christina Hesselholdt inszeniert in ihrem Roman nun einzelne Lebensabschnitte ihrer eigenwilligen Protagonistin wie ein Theaterstück.
Auf den wenigen bekannten Fakten beruhend, verleiht sie den losen Monologen ihrer Figuren fiktionale, aber realistische Stimmen. Den biografischen Rahmen (wie als Regieanweisung für den Leser, der Augenzeuge wird und sich selbst ein Urteil bilden muss) liefert ein „Erzähler“ und betont durch seine Schlaglichter das Fragmentarische dieser Spurensuche. Zuweilen tritt er auch in ein spannendes Zwiegespräch mit Viv, als sei er ihre innere Stimme. Ein kühnes Experiment ist dieses Buch – eigen und sperrig wie die Frau, von der es handelt, in einem Wort: außergewöhnlich.
Christina Hesselholdt:
„Vivian“. Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin, 208 Seiten; 21 Euro.