Pomeranzen-Fieber

von Redaktion

Volkamers Prachtband über Zitrusfrüchte im Nachdruck

VON SIMONE DATTENBERGER

Heute sind sie Massenware, die Zitrusfrüchte. Nur wenn uns die obligatorischen Orangerien in Schlossparks auffallen und wir in alten Geschichten vom Glück lesen, eine Orange geschenkt bekommen zu haben, stellt sich die Ahnung ein: Zitrone, Limone und Co. waren einst begehrte Raritäten – noch mehr in nördlichen Zonen als im Süden. Und wenn uns etwa auf Sizilien ein betörender Duft ein wenig in den Himmel hebt, wir erstaunt als Ursache lediglich kleine Blüten an kleinen Bäumen entdecken, dann sind wir diesen Pflanzen verfallen.

Deswegen ist es umso schöner, dass jetzt in der Winterszeit und in der Corona-Sehnsuchtsphase nach dem Land, „wo die Zitronen blühn“, ein üppiges, großformatiges Bilderbuch zur Gattung Citrus herausgekommen ist. Es lädt ein zum Schwelgen, Lernen und bisweilen Schmunzeln. Der Kölner Verlag Taschen widmet sich unter dem Titel „Johann Christoph Volkamer – The Book of Citrus Fruits – The complete Plates 1708-1714“ den Wälzern des erwähnten Herrn. Er präsentierte sie Mythos-unterfüttert stolz als „Nürnbergische Hesperides“. Damit wir Heutigen uns zurechtfinden in dieser Geschichte aus Wissenschaft und Bürgerstolz, Paradies- und Antikenfantasien, Italien und Deutschland, Kupferstichen und Buchdruck, hat der Verlag eine ausgewiesene Fachfrau engagiert: Iris Lauterbach forscht am Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte – neben Raubkunst und Frankreich im 18. Jahrhundert – zur Geschichte der Gartenkunst und lehrt sie an der TU München.

In ihrer auf Deutsch, Englisch und Französisch knapp gehaltenen und trotzdem extrem informativen Einführung „,Himmlische Früchte‘ – Johann Christoph Volkamers Hesperidenwerk“ erzählt sie von der Familie der Hesperiden-Nymphen genauso wie von der Volkamers. Sie nennt die damals bekannten Zitrusfrüchte – Mandarinen waren noch nicht aus dem Orient nach Europa vorgedrungen –, schildert die Energie des Nürnberger Seidenproduzenten, die internationalen botanischen Netzwerke und die Besonderheiten der Kupferstiche. In keinem anderen Buch dieser Art gibt es so viele. Sie sind der Schwerpunkt des Taschen-Bildbandes, der auf einem Original aus dem Stadtarchiv Fürth und einem Fund in der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg basiert. Die einstigen Besitzer ließen Band eins und zwei kolorieren, was bis heute einen enormen Effekt macht.

Die Kupferstiche nach nun verlorenen Zeichnungen von Volkamer entzücken aber nicht nur Citrus-Narrische und Bibliophile, sondern auch Kunstliebhaber, die Sinn fürs Schräge haben. Die Blätter bieten gewissermaßen einen frühen Surrealismus: Auf ihnen werden die Zitronen, Limetten, Orangen, Pomeranzen und Zedratzitronen (fürs Zitronat) nach der Natur abgebildet. Darunter wurden sehr viel kleiner Stadt-, Dorf- und Villenansichten (Veduten) gesetzt. Über dieser Welt mit springenden Hunden, Bauern, die die Ernte einfahren, eleganten Paaren, siechen Bettlern und Flaneuren schwebt also „Limon vulgare“ (Zitrone; Italienisch) wie ein riesiger Meteorit oder aber „Cedro großo Bondolotto“ (Zitronat) wie eine monströse Bombe. Das knallt richtig – zumindest für unsere Augen. Wunderbar ist, dass wir auf diesen Kupfern viel entdecken dürfen; etwa Nürnberg und Umgebung, denn Johann Christoph Volkamer (1644-1720) war stolzer Bürger der freien Reichsstadt und ließ den vom Großvater übernommenen Garten in der „vorstatt Gostenhoff“ ausbauen und mit den gesammelten, gezüchteten und gehegten Zitruspflanzen bestücken. Was Adelige konnten, vermochten Bürger ebenso gut!

Volkamer wurde in eine Familie aus Handelsleuten (Seide) und Gelehrten (Naturwissenschaften) geboren. Man war Nürnberger durch und durch; das hieß, man war weltgewandt, denn Handel und Handwerk lebten wie die Wissenschaft von Im- und Export. Johann Christoph übernahm vom Opa die Seidenmanufaktur im oberitalienischen Rovereto, wo er nicht nur erfolgreich war, sondern sich auch mit der Citrus-Leidenschaft infizierte. Volkamer wusste, dass er nicht mit seinem Forscher-Bruder Johann Georg gleichziehen konnte, dennoch wollte er etwas für die Ewigkeit hinterlassen: das umfassendste Buch über Citrus mit den meisten Bildern und für jeden verständlich auf Deutsch verfasst; botanisch akkurat und mit vielen Tipps für die praktische Gärtnerarbeit, etwa auch im Kampf gegen die böse Schildlaus.

Die „Hesperides“, 1708 mit über 255 Seiten erschienen, waren ein Riesenerfolg. Eine lateinische Übersetzung musste sogar herausgebracht werden – wegen der Nachfrage aus dem Ausland. Derart beflügelt stürzte sich Volkamer in eine „Continuation“ (1714; über 239 Seiten). Der Nürnberger konnte sich alle bibliophilen Wünsche erfüllen, da er reich genug war, sein Pracht-Buch selbst zu finanzieren. So wurden schließlich auch Schlossanlagen wie Schönbrunn (Wien), die Stadt Genua und viele, viele Villen im Veneto gezeigt. Eine dritte Version war in Arbeit mit einmaligen Dokumenten zu Landsitzen bei Bologna, als Volkamer 1720 starb. Der bisher unbekannte Band mit 62 Tafeln in der Unibibliothek Erlangen-Nürnberg gibt einen Eindruck von der „Fortsetzung“.

So wurde der Unternehmer Johann Christoph Volkamer zu einer Art nürnbergischem Herkules. Der antike hatte neben vielen anderen Taten am westlichen Ende der Welt die „goldenen Äpfel“ („poma aurantia“ werden „Pomeranzen“) der Hesperiden trickreich besorgt. Atlas, der die Erdkugel auf den Schultern trägt, hatte ihm „geholfen“. Seine Töchter, die Nymphen Aegle, Arethusa und Hesperthusa, treten höchstpersönlich in Volkamers Werk auf und laden uns in ihre Gärten ein. Auf den Dekorgrafiken reichen sie ihre Zitrusfrüchte (sie sichern den Göttern ewige Jugend) der Noris, der Allegorie Nürnbergs; Merkur beziehungsweise Herkules halten sich mehr oder weniger im Hintergrund. Diese Pflanzen mussten doch „golden“ und „himmlisch“ sein: Ihre Blätter bleiben immer grün, sie blühen und tragen gleichzeitig Früchte.

Iris Lauterbach:

„Johann Christoph Volkamer – The Book of Citrusfruits – The complete Plates 1708-1714“. Dreisprachig. Taschen, Köln, 384 Seiten; 125 Euro.

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