Natürlich hätte dieses „Dein dich für immer liebender Jan“ auch per E-Mail oder Whatsapp-Nachricht mitten ins Herz getroffen. Damals, mit elf, als Jan noch gar nicht ahnte, wie lang „für immer“ sein kann. Und doch ist die Frage: Würde sich die Autorin dieser Zeilen tatsächlich auch heute noch an die Botschaft ihrer ersten großen Liebe so haargenau erinnern, wenn sie einst auf elektronischem Wege zu ihr gefunden hätte? Ohne das vorherige Fischen im Briefkasten, das Entdecken eines Schreibens an sie? Und dann: der Blick auf den Absender. Er schreibt. Zitternde Hände, hüpfendes Herz. Hinaus in den Garten, in die Höhle hinter den Sträuchern – damit die Schwestern nicht zuschauen, wenn man liest, was der frühreife Verehrer mit Füller auf Dinosaurier-verziertem Briefpapier in schönstmöglicher Buben-Schrift formuliert hat.
Der tippte ja nicht einfach auf „Senden“. Wer auf Senden tippt, der kann, wenn die Herzensperson nicht wie erhofft reagiert, die Standardlüge der digitalen Feiglinge nutzen: „Ups, falsche Nummer. Das war gar nicht an dich.“ Der Bursche damals ging analog aufs Ganze. Faltete das Blatt, steckte es in einen Umschlag, frankierte den und trug ihn zum Kasten. Und wenn ihn in einem dieser Momente Zweifel überkamen, dann hat er sie niedergerungen. Die Liebe des Elfjährigen war stärker.
Wehmütig erinnert man sich. Schreiben heutige Erstverliebte noch analoge Briefe? Und: Wie oft greift man eigentlich selbst zu Stift und Papier? Während der Corona-Pandemie hat man ja notgedrungen mehr Zeit als sonst. Digitale Influencer nutzen sie, um ständig Bananenbrot zu backen oder im Bikini im Schnee zu tollen. Doch, seien wir ehrlich, an die Fotos, die dabei für Instagram entstehen, wird sich in ein paar Jahren höchstens noch die Datensammelabteilung von Facebook erinnern.
Analoge Botschaften bleiben. Der britische Autor Shaun Usher durchforstet die Archive dieser Welt nach faszinierenden Briefen. Seine „Letters of Note“ sind inzwischen auch als Reihe auf Deutsch erschienen. Fünf Büchlein versammeln leidenschaftliche, traurige, euphorische, in jedem Falle berührende Zeilen teils berühmter Verfasser zu den Themen Mütter, Musik, Liebe, Katzen und Krieg.
Da gibt der Schriftsteller John Steinbeck seinem 14-jährigen Sohn 1958 Tipps in Sachen Liebe („Und fürchte keine Zurückweisung. Wenn es sein soll, wird es geschehen. Alles Gute bleibt.“). Da dankt die auf ihren Sohn Danny so stolze Mutter Julia DeVito 1973 Kirk Douglas in einem Brief dafür, dass der ihrem Danny eine Rolle in „Scalawag“ gab. Der Film wurde ein Flop – am Marketing-Können der Familie DeVito kann es nicht gelegen haben. Herzerfrischend engagiert schreibt die Frau Mama an Kirk Douglas: „Meine Tochter besitzt einen Schönheitssalon in Neptune, New Jersey, und hat darin ein Schild aufgehängt, auf dem steht: ,Scalawag läuft demnächst auch hier.‘ Sie sehen also, die Werbetrommel wird gerührt.“ Und der Autor Kurt Vonnegut jr. unterstützt am 28. November 1967 seinen Sohn Mark in dessen Versuch, den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigern zu können, in einem Schreiben an die US-amerikanische Einberufungsbehörde: „Er wird nicht hassen. Er wird nicht töten. Denn in alledem liegt keinerlei Hoffnung. Im Krieg liegt keinerlei Hoffnung.“
Briefe, das wird in all den aufwühlenden Zeilen deutlich, müssen keine „Liebesbriefe“ sein: Hinter jedem von Hand geschriebenen persönlichen Text steht ein tiefes Gefühl. Jemand hatte ein Anliegen und wollte es unbedingt mit einem anderen teilen. Briefe überwinden Schützengräben, Ländergrenzen und Gefühlswirrwarr. Und warum nicht auch die vermaledeite Pandemie?
Shaun Usher:
„Letters of Note“. Heyne Hardcore München, 5 Bände à 200 S.; je Band 12 Euro.