„Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viele Noten.“ Dieser Ausspruch von Kaiser Joseph II. über Mozarts „Entführung aus dem Serail“ ist wahrscheinlich ebenso legendär wie die angebliche Antwort des Komponisten. „Gerade so viele als nötig, Majestät.“ Und auch wenn bis heute umstritten ist, ob die Unterhaltung der beiden Herren tatsächlich in diesem Wortlaut über die Bühne gegangen ist, ändert dies doch nichts am Wahrheitsgehalt der Botschaft.
Genau diese scheint der neue Sammelband noch einmal untermauern zu wollen, der nun zum 100. Geburtstag des Würzburger Mozartfests erscheint. Unter dem Titel „Weil jede Note zählt“ finden sich auf rund 350 Seiten Gespräche und Essays zum nie abgeschlossenen Thema „Mozart interpretieren“. Wie Herausgeber Stephan Mösch im Vorwort mit auf den Weg gibt, ist das runde Jubiläum zwar Anlass, aber keineswegs der zentrale Gegenstand des interessanten Buchs. Trotzdem findet sich natürlich auch hier eine reich bebilderte Chronik, die mit einem Mozart-Brief aus dem Jahr 1790 beginnt und – anders als manch andere trockene Aufzählung – weniger eine komplette Dokumentation anstrebt, sondern die Aktivitäten des Festivals in den zeitgeschichtlichen Kontext einbettet. Wobei neben der Suche nach einer neuen kulturellen Identität in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs oder dem Wiederaufbau in den Fünfzigerjahren auch die „Kraft durch Freude“-Aktionen der NS-Zeit sehr wohl mit unter die Lupe genommen werden.
Abseits von Zeitgeschichte und Weltpolitik entdeckt man in dieser Übersicht der ersten hundert Jahre aber auch manche kleine Überraschung. So etwa die erste konzertante Opern-Aufführung des Festivals, die ausgerechnet der heute eher als Kuriosum gewerteten „Idomeneo“-Fassung von Richard Strauss galt. Oder einen der ersten Karriereschritte von Wagner-Heroine Waltraud Meier, die 1977 in ihrer Heimatstadt den ersten Platz beim Mozartfest-Wettbewerb belegte und zusätzlich als Marcelina in einer „Figaro“-Produktion im Stadttheater zu erleben war.
Gehaltvoller wird es freilich bei den gesammelten Essays, die das Thema „Mozart interpretieren“ auf höchst unterschiedliche Weise anpacken. Geht es dabei doch nicht nur darum, Besetzungstraditionen im Laufe der Jahrzehnte zu analysieren oder berühmte Mozart-Dirigenten wie Fritz Busch und Karl Böhm gegen Originalklang-Forscher wie Nikolaus Harnoncourt oder René Jacobs auszuspielen, ehe mit Teodor Currentzis noch eine durchaus kontrovers diskutierte Trumpfkarte ins Spiel gebracht wird. Der Begriff Interpretation geht hier weit über die Gretchenfrage nach historischer oder „nur“ historisch informierter Aufführungspraxis hinaus. Lesenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem ein Beitrag aus der Feder des Münchner Musikwissenschaftlers Wolfgang Rathert. Sein Essay beleuchtet ebenso detailreich wie kritisch die Wirkung und Auswirkung von Mozarts Musik auf Komponisten und Komponistinnen des 20. Jahrhunderts sowie deren individuelle Klangästhetik. Wobei sich der Bogen von Gustav Mahler über Hans Werner Henze bis hin zu Chaya Czernowin spannt.
Mehr noch als diese theoretischen Überlegungen fesseln aber die Gespräche, in denen bedeutende Interpretinnen und Interpreten zu Wort kommen: Menschen wie Alfred Brendel, Tabea Zimmermann, Christian Gerhaher, Hartmut Haenchen oder Brigitte Fassbaender, die von ihren persönlichen Erfahrungen mit der Musik des Salzburger Wunderkindes erzählen. Denn neben technischen Aspekten und editorischen Fragen, über die sich im Zweifelsfalle immer eloquent diskutieren lässt, spielt hier auch die emotionale Ebene mit hinein. Und ohne die wäre schließlich kein Mozart-Bild vollständig. Oder um den Titel des Buches mit einer eigenen These zu ergänzen: „Jede Note zählt“ – solange man sie beim Singen oder Spielen in sich fühlt.
Stephan Mösch (Hg.):
„Weil jede Note zählt. Mozart interpretieren“. Bärenreiter, Kassel, 401 Seiten; 29,99 Euro.