Vom Leben in der Diktatur

von Redaktion

PREMIERENKRITIK „Es waren ihrer sechs“ am Münchner Residenztheater

VON ALEXANDER ALTMANN

Der Grundgedanke ist natürlich richtig: In unnormalen Zeiten kann man eigentlich kein normales Theater machen, so als wäre alles in Ordnung. Und darum hat Michal Borczuch jetzt eben unnormales Theater gemacht. Geplant war, dass der polnische Regisseur am Münchner Residenztheater eine freie Bühnenadaption von Alfred Neumanns Roman „Es waren ihrer sechs“ (1945) inszeniert. Stattdessen hat er nun aber die Proben zu dieser Inszenierung inszeniert und gefilmt – um daraus eben ein Format zu machen, das extrem genug ist, um dem Lockdown-bedingten Zwang zum Theater-Stream per Internet zu entsprechen. Am Donnerstag fand die Online-Premiere statt.

Zuerst wird da dem virtuellen Publikum erklärt (aber nicht gezeigt), dass das Bühnenbild an Caspar David Friedrichs Gemälde vom „Eismeer“ erinnere – das dann zum Glück schon gezeigt wird. Und sicher nicht von ungefähr, denn genauso schroff, kantig, scharf wie die hochgetürmten Eisschollen auf dieser Ikone der Romantik wirkt auch die spezifische Ästhetik der filmischen Performance, die folgt: In schnellen, grellen Schnitten rasen zusammenhanglose Szenen dahin, wechseln sich ab mit längeren, ruhigeren Episoden. Die oft gewollt ruppigen Kamera-Einstellungen erscheinen bewusst amateurhaft, teils auch unscharf, und so prasselt ein rabiater Bilderhagel auf den Zuschauer ein.

Während auf der Tonspur ganz altmodisch Hufgetrappel und Glockenläuten läuft, sieht man Valentino Dalle Mura, wie er in brauner HJ-Uniform mit Hakenkreuz-Armbinde und Mund-Nasen-Schutz herummarschiert, Pauline Fusban läuft über die Bühne und lamentiert theatralisch-divenhaft, sie habe „gar kein Kostüm“, Niklas Mitteregger singt mit beeindruckender Stimme (die wohl vom Band kommt) „Das Wandern ist des Müllers Lust“, und Vincent Glander wiederholt 100 Mal den Satz aus dem ersten Flugblatt der „Weißen Rose“: „Vergesst nicht, dass jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt.“

Denn trotz aller formalistischen Experimente mangelt es dem Projekt keineswegs an aufwühlender Dramatik und bestürzendem Ernst. Im Gegenteil: Mit seiner zentrumslosen Zersplitterung der Wahrnehmung macht es atmosphärisch eindringlich erfahrbar, dass die Theaterinszenierung, deren „Making-of“ hier nicht dokumentiert, sondern quasi als neues Genre inszeniert wird, vom Leben in der NS-Diktatur handelt. Speziell vom Widerstand der „Weißen Rose“, der Alfred Neumanns Roman mit inspiriert hat.

Viele bekannte und weniger bekannte Geschichten oder Motive, die wir über diesen gesamten Themenkomplex im Kopf haben, werden in Borczuchs Theaterfilm assoziativ aufgerufen. Und weil diese Assoziationen sich genauso schräg und verwackelt ineinander kanten, wie die Szenen in der bewusst brüchig-chaotischen Komposition des Films, stoßen sie natürlich die grundsätzliche Frage an, wie sich unser Bild der Realität konstituiert.

Eine andere Frage, nämlich, ob dieses steile Online-Experiment auch analog auf der Bühne funktioniert, kann man erst mal zurückstellen. Wer weiß schon, wann das Publikum jemals wieder ins Theater darf…

Nächste Vorstellungen

an diesem Samstag sowie am 24. Februar; Karten und weitere Informationen gibt es unter

www.residenztheater.de.

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