Richtig gemütlich sieht es aus in dieser Küche: Die Wände in Weiß und Hellgelb gehalten. Auf dem Ceranfeld köchelt schon die Macchinetta für den ersten Espresso zwischendurch. Verschiedene Küchenutensilien hängen und stehen bereit. Die Sitzecke wartet. Der Kühlschrank ist ebenfalls gut gefüllt.
Der Mann (Robert Dölle) will Orangenmarmelade einkochen. Doch dabei kommt er nicht so recht voran. Immer wieder unterbricht er, weil er seine Gedanken und Erinnerungen der Kamera mitteilen muss. Weil die Bilder, die er im Kopf hat, so monströs sind, dass sie absolut nicht in diese enge, freundlich eingerichtete Küche passen wollen. Es sind Bilder, die jeder aus den Fernsehnachrichten kennt: von überfüllten, oft seeuntauglichen Booten voller verzweifelter Menschen; von hilflos im Wasser treibenden Gestalten; von sonnenbeschienenen Badestränden voller Leichen in Schwimmwesten. Aber es sind die Erläuterungen zu diesen Bildern, die in ihrer bestechenden Nüchternheit besonders zu Herzen gehen und die nach Endes des kompakten Monologs „Finsternis“, der in der Inszenierung von Nora Schlocker jetzt am Münchner Residenztheater Online-Premiere hatte, noch lange nachhallen.
Etwa wenn der Rettungstaucher erzählt, wie er auswählt, um welchen Hilfesuchenden im Wasser er sich zuerst kümmert. Um drei Ertrinkende vor ihm oder die Mutter mit Baby weiter entfernt? „Da hilft nur eins: Rechnen. Das ist reine Mathematik. Drei Leben sind ein Leben mehr.“ Der italienische Schriftsteller und Schauspieler Davide Enia, aus Palermo stammend, hat in seinem Leben schon oft Zeit auf der Insel Lampedusa nahe Sizilien verbracht. Als 2013 hunderte tote Flüchtende dort an Land trieben und die kleine Felseninsel auf grauenhafte Weise in den Fokus der Weltöffentlichkeit geriet, fuhr Enia erneut hin. Mit seinem wortkargen Vater im Schlepptau. Und telefonisch immer verbunden mit dem schwerkranken Onkel.
Auf Lampedusa befragte Enia seine Freunde, die dort ein „Bed & Breakfast“ betreiben, aber auch viele Einheimische, Helfer und Rettungstaucher. Das Ergebnis seiner Recherchen erschien als Romanbericht „Schiffbruch vor Lampedusa“ (auf Deutsch im Wallstein Verlag) und nun als beklemmend eindringlicher Bühnenmonolog mit dem Titel „Finsternis“.
Der großartige Robert Dölle gibt mit seinem nuancenreichen Spiel allen diesen Stimmen ein Gesicht, unprätentiös und doch von enormer Wucht. Mit der Eingeschränktheit von Raum und Mitteln kann er gut umgehen. Er verleiht dem abgeklärten Retter am Strand ebenso mit wenigen Gesten Kontur wie dem Friedhofsgärtner, der Ärztin, dem Onkel im Krankenhaus oder dem kranken libyschen Buben im Klinikbett nebenan.
Man kann Residenztheater-Intendant Andreas Beck und sein Team gar nicht genug loben für die Entschlossenheit, gerade jetzt die deutschsprachige Erstaufführung dieses Textes als Zoom-Premiere (und hoffentlich in möglichst naher Zukunft auch analog auf der Bühne) in den Spielplan zu nehmen. Denn Enias klare, präzise und nüchtern gehaltene Beschreibungen der erschütternden Erlebnisse auf der Insel sind genau das Richtige, um heftig und nachhaltig wachzurütteln: raus aus der Corona-bedingten Bräsigkeit und unablässigen Selbstbespiegelung. Wieder hinein in den Lauf der Welt, deren Ungleichverteilung und Ungerechtigkeiten sich durch Sars-CoV-2 nicht in Luft aufgelöst haben.
Nächste Vorstellung
am 28. Februar (ausverkauft); weitere Informationen unter www.residenztheater.de.