Eine fantastische Hölle

von Redaktion

URAUFFÜHRUNG Intendant André Bücker inszenierte in Augsburg „14 Vorhänge“ von Einar Schleef

VON ALEXANDER ALTMANN

Um das gleich vorwegzunehmen: Es ist die Hölle. Und trotzdem ist es absolut fantastisch, so ein VR-Theater. VR steht für „Virtual Reality“ und meint hier jene supernaturalistische digitale Filmtechnik, durch die sich der Zuschauer mitten in den Raum hineinversetzt fühlt, in dem der Film spielt. Möglich ist diese Total-Illusion nur, wenn man eine spezielle VR-Brille aufsetzt, quasi ein Mini-Kino direkt vor den Augen, das einen optisch von der realen Umgebung isoliert und ganz eintauchen lässt in eine andere Welt.

Diese Technik hat das Staatstheater Augsburg für künstlerische Zwecke adaptiert (wir berichteten), und seit vergangenen Freitag können Zuschauer, die eine Brille bestellen, die jüngste VR-Produktion „14 Vorhänge“ erleben: Der Augsburger Intendant André Bücker inszenierte mit dem Schauspieler Klaus Müller als Solisten die Uraufführung dieses sehr kurzen Monologes von Einar Schleef (1944-2001). Darin geht es um einen einst gefeierten Schauspiel-Star, der nach triumphalen Erfolgen den Absturz in Wahn und Elend erlebte. Daran erinnert er sich jetzt auf der Bühne eines leeren, halb abgerissenen Theaters.

Dieser Text, sehr entfernt in der Tradition von Thomas Bernhards „Theatermacher“, kommt aber erst am Schluss der Aufführung. Deren größter Teil zeigt – in Schwarz-Weiß – die langsame, melancholische Wanderung des Schauspielers durch die entkernten Säle des Augsburger Theaters, das gerade saniert wird: Man sieht einen eleganten älteren Herrn im dunklen Mantel, mit Hut und Handschuhen an kahlen, aufgeschlagenen Wänden entlang schreiten, aus denen Kabel ragen. Die Böden sind blanker Beton, überall liegt Staub, aber der berückende Reiz des Morbiden, die Untergangs- und Abschieds-Wehmut, die das abgewrackte Setting verströmt, scheinen fast noch aussagekräftiger als der Text. Vom Foyer geht es über Keller, Gänge, Treppen auf die Galerie (samt Blick in gähnende Abgründe), dann weiter ins Parkett und schließlich auf die Bühne.

Das alles wäre nur bedingt weltbewegend, fühlte man sich nicht durch die Brille in eine surreale Traumwelt versetzt, in der man durch Drehung von Kopf und Körper rundum blicken kann. Gespenstisch, über- und unwirklich zugleich mutet alles an – und wirkt so ungeheuer suggestiv, dass man gar körperlich darauf reagiert: Schwindel ergreift den Zuschauer, die Knie werden weich, der Kreislauf flackert, man krallt sich an die Tischkante – und nimmt die Brille ab. Dadurch schaltet der Film auf Pause.

Unser Tipp also: Nach jeweils fünf Minuten VR mindestens zehn Minuten Erholungszeit einlegen – und womöglich zu sonstigen Risiken und Nebenwirkungen einen Arzt oder Apotheker fragen. Denn nach dieser Theater-Erfahrung meint man zumindest vage zu ahnen, wie sich ein LSD-Trip anfühlt. Sagen wir so: Man muss sie einmal erlebt haben, diese Einheit des Grandiosen und Unerträglichen im VR-Theater. Aber öfter vielleicht auch nicht.

Weitere Informationen

gibt es online unter staatstheater-augsburg.de.

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