Alles ist egal – oder doch nicht?

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Daniel Wisser erzählt in „Wir bleiben noch“ von Sozialdemokratie und Liebe

VON JOHANNA POPP

Es sind harte Zeiten für die Sozialdemokratie – lange schon trifft dieser Satz weitestgehend zu, schaut man sich nun in Deutschland um oder über die Landesgrenze hinüber nach Österreich. Oder man wirft einen Blick in „Wir bleiben noch“, den neuen Roman von Autor und Musiker Daniel Wisser. Denn dort, zwischen den Buchdeckeln, lebt Victor, ein Mann in der Krise. Und eben auch noch „der letzte Sozialdemokrat“ Österreichs, wie ihn seine Geliebte spöttisch nennt, was dem Krisenzustand kaum abträglich ist.

Victor, benannt immerhin nach Victor Adler, dem Begründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, kommt aus einer tiefroten Familie, oder zumindest war sie das einmal. Nun aber, da sie im Herbst 2018 zum neunundneunzigsten Geburtstag der Urgroßmutter im Burgenland zusammenkommt, offenbaren sich die Gräben, die sich in den vergangenen Jahrzehnten gebildet haben. Die sind politisch wie privat, was sich in einer Familie wie dieser ohnehin kaum trennen lässt.

Dass Victor abgesehen von der Regierungsbeteiligung der FPÖ, ermöglicht durch seine eigenen Verwandten, auch noch seine Ehe in den Sand gesetzt hat und ohnehin seit Jugendtagen seine Cousine liebt, lässt ihn allerdings nicht verzweifeln. Recht stoisch nimmt er all diese Wendungen hin, und ebenso lässig erzählt Wisser davon: Wie sich nicht nur die Politik, sondern auch Geheimniskrämerei, Missgunst und die Angst, zu kurz zu kommen, durch die Familiengeschichte der Sandbichlers ziehen, wie Victor und seine Cousine Karoline endlich den seit 30 Jahren zwischen ihnen glimmenden Funken auflodern lassen, wie ihre Liebesbeziehung schließlich den mühsam aufrechterhaltenen Familienfrieden zerstört und wie das, im Grunde genommen, auch schon nicht mehr so wichtig ist.

Alles geschieht wie nebenbei, so wie auch die Ibiza-Affäre wie nebenbei geschieht, nebenbei gestorben, geliebt, gestritten wird. Alles ist eigentlich ein bisschen egal in diesem Roman, sodass man erst gegen Ende merkt, dass eben überhaupt nichts egal ist. Das Private ist politisch, die Liebe eine Rebellion, Familie diskutierbar. Und alles zusammen von entscheidender Bedeutung.

Ein im besten Sinne österreichischer Roman, zu dessen Lektüre sich nur ein Lied als musikalische Begleitung denken lässt: „Bologna“, in dem Wanda-Sänger Marco wunderschön wienerisch gefärbt singt, er würde gern mit seiner Cousine schlafen, traue sich aber nicht. Wobei sich Victor und Karoline wohl eher an die wiederkehrende Textzeile gehalten haben: „Wenn jemand fragt, wofür du stehst / Sag für Amore, Amore“.

Daniel Wisser:

„Wir bleiben noch“.

Luchterhand Verlag, München, 480 Seiten; 22 Euro.

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