Er ist ein Schleusenwärter – aber was für einer. Der Fallmeister, der Christoph Ransmayrs neuem Roman den Titel gibt, hievt nicht Schiffe ein paar Meter nach oben oder unten. Er muss tatsächlich einen mächtigen Wasserfall so meistern, dass die Transportboote nicht vom tosenden Nass zermalmt werden. Der Fallmeister lenkt die richtige Menge Wasser und die Zille, die Salz und Menschen trägt, in Balkone an der Felswand. In ihnen steigen gewissermaßen die Schiffe nach und nach unbeschadet in die Tiefe. Eine atemberaubende, alte Technologie.
Bei Ransmayrs „Kurzer Geschichte vom Töten“, so der Untertitel, begegnen Leserin und Leser erst einer Idylle: Landschaft, Technik, Heimatmuseum. Ein musealer Blick zurück in die Vergangenheit, den Einheimische zu Festtagen und Touristen jederzeit lieben. Der Vater des Erzähler-Ichs ist der Hüter all dieser Schönheiten. Wenn da nicht der erste Satz des Romans wäre: „Mein Vater hat fünf Menschen getötet.“ Eben genau mit dem Können, das einen Fallmeister auszeichnet. Die Obrigkeit glaubt an einen Unfall, der Mann wird nicht belangt. Ein Jahr nach dem Schreckenstag bringt er sich vor den Augen der Besucher im 40 Meter hohen Großen Fall um. All das treibt den Sohn immer drängender um.
Christoph Ransmayr (Foto: Amrei-Marie / Wikipedia) spinnt behutsam eine Detektivgeschichte an – nur mit einem dünnen Faden. Der wird zwar im Laufe des Romans dicker und zu einem seltsamen Gewebe, aber nicht zu einem klassischen Krimi. Täter, Jäger, Opfer können ineinander übergehen. Das ist die harmlosere Seite des Romans. Etwas, was wir seit Ödipus kennen, etwas, was schrecklich, dennoch in den Griff zu bekommen ist. Der Detektiv löst das Rätsel, und alle fühlen beruhigende Handlungskompetenz. Die Lage ist grässlich, bleibt indes beherrschbar. Der österreichische Schriftsteller (Jahrgang 1954) entwickelt in seinem aktuellen Roman parallel dazu die andere Seite: Nichts ist beherrschbar, schon gar nicht von einem Einzelnen.
Verorten wir Leser die Flussromantik mit Museum zunächst in der Gegenwart, lässt uns der Hinweis auf die Grafschaft Bandon oder Begriffe wie „Sühnejahr“ und „Deichgraf“ zögern. Spielt der Roman doch in einer unbestimmten Vergangenheit? Schon tauchen Handys und Fernseher auf. Also doch eine seltsame Gegenwart. Das mulmige Gefühl der Verunsicherung verstärkt der Autor auch, als klar ist, dass wir uns in einer Zukunft befinden. Weil sie zum Greifen nah ist, wirkt sie umso beängstigender. Denn sie ist die konsequent fortgedachte Gegenwart.
Aus der Erzählung des jungen Mannes erfahren wir, dass die Welt in winzige Kleinstaaten zerfallen ist, die alle irrwitzige, unmenschliche Nationalismen pflegen. Zukunft? Nein, gab es und gibt es. Regierungen bestimmen deswegen überhaupt nichts Wichtiges mehr, quälen aber Menschen. So wird die Mutter des Fallmeisterbuben und seiner Schwester Mira vertrieben, weil sie nicht aus Bandon, sondern vom Mittelmeer stammt. Fast alle führen Krieg. Gab es und gibt es. Der Globus wird von Konzernen, Syndikate genannt, beherrscht. Sie besitzen das Existenzielle: das Wasser. Ransmayr muss die Klimaüberhitzung gar nicht groß erwähnen: Im Roman herrscht etwa in Dalmatien Dürre wie in der Südsahara, die norddeutsche Küste ist längst überschwemmt. Wenn der Erzähler dort seine Schwester besucht, fährt der Zug in einen inselartigen Bahnhof auf Stelzen ein. Und da die Syndikate alles im Griff behalten wollen, gibt es Kastensystem, Arbeitslager, Überwachung, beschränkte Reisefreiheit, keinen zuverlässigen Zugang zu Nachrichten. Gab es und gibt es.
Der Effekt dieses gegenwartsbezogenen Futurismus, der unsere historischen Erfahrungen einbezieht, ist frappierend. Die Bedrückung, Beklemmung, das Albtraumhafte kann man nicht mehr wegschieben wie bei einem Science-Fiction-Roman. Man weiß: Genau so kann es kommen!
Christoph Ransmayr serviert das elegant, ohne moralisches Zeigefingerwackeln, erzählerisch bunt zwischen Reiseabenteuer- und Detektivgeschichte, zwischen Liebeserwachen und Tragödie. Da der Protagonist zur privilegierten Kaste der Hydrotechniker gehört – Spezialist für Wirbelstromkraftwerke –, darf er sich von einem Strom der Welt zum anderen bewegen, vom Amazonas bis zum Mekong. Für den Dichter Anlass, sich als Sprachkünstler und Rhapsode vor der Natur und der Magie der Wasser zu verbeugen.
Christoph Ransmayr:
„Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 220 Seiten; 22 Euro.