„Meine Inspirationen schwimmen in der Isar“, sagt Daniel Speck (52) lächelnd beim Interview-Spaziergang am Flussufer. Fast täglich sei er dort entlanggegangen, erinnert sich der Münchner an die zweijährige, intensive Phase des Schreibens, in der an diesem Ort wichtige Kapitel seines neuen Romans „Jaffa Road“ entstanden sind. Eines davon ist der Koffer, der das Cover ziert. „Dieser Koffer ist eine zentrale Metapher“, erklärt Speck. „Jeder von uns schleppt so einen Koffer mit sich – Geschichten der Eltern, die sie nie ausgepackt haben, unerfüllte Träume, Wunden und Wünsche, weitergegeben an die nächste Generation. Alte Fotos, unbezahlte Rechnungen, Geheimnisse… Irgendwann muss man den öffnen und sich fragen: Was ist wirklich meins?“
Joëlle, eine der Hauptfiguren in „Jaffa Road“, entdeckt genau so einen Koffer ihres Vaters Maurice, voll mit Beweisen, dass er sie, seine jüdische Tochter, nie vergessen hat; aber auch gespickt mit Spuren von Lebensabschnitten, von denen sie nichts wusste. Und die anderen beiden Protagonisten der Geschichte, Nina, die deutsche Enkelin von Maurice, und sein palästinensischer Sohn Elias, haben ebensolche Erinnerungskoffer im Gepäck. Jedem fehlt ein Stück des Ganzen, und erst, als sie sich gegenseitig zuhören, gelingt es ihnen, die volle Wahrheit aufzudecken.
„Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen genau das verlernt haben: einander zuzuhören,“ bedauert Speck. „Jeder posaunt seine Meinung heraus – je weniger Ahnung, desto mehr Meinung.“ Dabei sei Zuhören elementar: Durch Empathie wächst man, kann aus der eigenen Verletzung aussteigen und die Perspektive des anderen wahrnehmen. „Deshalb ist es mir wichtig, meine Person nicht vor die Haltung der Figuren zu schieben, sondern jeder Figur eine eigene Stimme zu geben“, erläutert er. „Letztendlich entscheidet der Leser, mit wem er sich identifiziert.“ Selbst bestürzende Dinge, die passieren, schildert der Autor ohne jede Schwarz-Weiß-Zeichnung: „Ich erzähle, aber verurteile nicht. Mich interessieren die kleinen Menschen, die sich ohne böse Absicht in ein Dilemma verstricken. Menschen wie du und ich.“
In „Jaffa Road“ beginnt die Geschichte mit einer jüdischen und einer arabischen Familie in Palästina nach dem Zweiten Weltkrieg. Detailliert recherchiert durch viele Gespräche mit Historikern, Zeitzeugen und Journalisten schildert Speck das Leben dort und den Beginn eines Konflikts, der bis heute anhält. „Zeitzeugen erzählten aber auch Geschichten von guter Nachbarschaft. In Jaffa arbeiteten Menschen verschiedener Konfessionen gemeinsam auf den Orangenhainen. Sie luden einander zu ihren Festen ein, Kinder lernten die anderen beim gemeinsamen Essen und Singen kennen und nicht über das, was trennt.“
Wie aus Nachbarn Feinde wurden, schildert Speck auf unterschiedlichen Zeitebenen, aus verschiedenen kulturellen Blickwinkeln und mit einer atmosphärischen und emotionalen Nähe zu seinen Figuren, die beeindruckt und mitreißt. Leser, die seinen Erfolgsroman „Piccola Sicilia“ kennen, finden sich in „Jaffa Road“ sofort zurecht: Die Ankunft von Maurice und seiner Familie in Haifa setzt da an, wo die Geschichte des desertierten deutschen Soldaten Moritz, der in Tunis erst einen Juden versteckt und dann von dessen Familie vor den Alliierten beschützt wird, endet. War das immer als Zweiteiler geplant? „Ja und nein.“ Speck lacht. „Ich hatte die Geschichte von Moritz oder Maurice, dem Mann, der zwischen allen Fronten zerrieben wird, von Beginn an als großen Handlungsbogen geplant. Mir war aber wichtig, dass jedes Buch für sich steht. Man kann nur das eine lesen oder das andere. Oder beide, egal in welcher Reihenfolge.“ Das so hinzubekommen, dass der Leser, der „Piccola Sicilia“ nicht kennt, „Jaffa Road“ versteht, aber der, der es kennt, sich nicht langweilt, sei die härteste Arbeit von allen gewesen, gesteht Daniel Speck und schmunzelt bei dem Lob, dass ihm das wirklich gelungen sei.
„Ich bin ein Handwerker“, plaudert er aus dem Nähkästchen des Autorenlebens. „Ich feile mit meiner Lektorin an jedem Detail, nehme mir Zeit für Recherche und Korrektur, denn gute Plots sind komplexe Bauwerke, die zusammenbrechen, wenn in der Mitte etwas nicht stimmt.“ In „Jaffa Road“ stimmt alles. Und man spürt, wie sehr Speck sich darüber freut. Nicht mal der Umstand, dass die Corona-Pandemie ihm die Möglichkeit nimmt, sein Buch live der Öffentlichkeit zu präsentieren, kann diese Freude trüben. „Es ist schade, dem Publikum gerade nur durch die Kamera zuzuwinken“, gibt er zu. „Aber in Zeiten, in denen man selbst nicht reisen kann, bietet Literatur doch auch die Chance, mit Büchern zu reisen, sich in andere Identitäten zu versetzen und die Welt mit neuen Augen zu betrachten. Oder anders formuliert: Buch geht immer – gerade jetzt.“
Daniel Speck:
„Jaffa Road“. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 672 Seiten; 16,99 Euro. Buchpremiere heute online um 20 Uhr im Münchner Literaturhaus; Zugang für fünf Euro (Stream 72 Stunden verfügbar) über www.literaturhaus-muenchen.de.