Nach „Unter Leuten“ kommt „Über Menschen“: Juli Zeh, zweifellos eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart, liebt Wortspielereien. Tatsächlich hängen die beiden Romane auch lose zusammen. Zumindest geografisch ist die Nähe zwischen dem bereits bekannten Ort Unterleuten und dem nahe gelegenen Bracken, Schauplatz der aktuellen Handlung, schon von Beginn an deutlich. Das Naturschutzgebiet, das in Unterleuten die Dorfbewohner entzweite, wird in „Über Menschen“ ebenfalls erwähnt. Die hinlänglich vertrauten Figuren tauchen zwar nicht erneut auf. Der Kosmos allerdings, die brandenburgische Provinz in all ihrer Schönheit und Trostlosigkeit, ist nahezu identisch.
Doch seit „Unter Leuten“ sind zehn Jahre vergangen. Und Dora, die Hauptfigur in „Über Menschen“, ist auch eine typische Vertreterin des soeben begonnenen Jahrzehnts. Mitte Dreißig, Werbetexterin in einer Berliner Agentur, immer leicht überfordert. Und zunehmend genervt vom Journalisten-Lebensgefährten Robert, der sich seit dem ersten Lockdown im März 2020 vom militanten Klimaschützer zum noch energischer auftretenden Corona-Mahner verwandelt.
Zeit also für einen Neuanfang auf dem Land, um sich „mithilfe von Biotomaten zu entschleunigen“. Die Gewissheiten des Alltags bröckeln, die Pandemie hat das Land bald fest im Griff, während Dora unermüdlich versucht, aus ihrem Acker einen wildromantischen Blumengarten zu zaubern. „Weitermachen. Nicht nachdenken“ wird Doras Überlebensmotto inmitten einer sich nicht nur durch Covid-19 rasant verändernden Gegenwart, in der die AfD-Wähler schon „im Outfit eines ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers oder Wackersdorf-Aktivisten“ daherkommen.
Bei ihrem direkten Nachbarn Gote dagegen wusste Dora sofort, woran sie ist. Dachte sie zumindest. „Ich bin hier der Dorf-Nazi“, stellt er sich vor. Worauf der Ex-Werbefrau nur ein Slogan durch den Kopf geht: „Neue Challenge – neuer Chill.“ Doch die Herausforderung wird zunehmend komplexer. Was tun, wenn von der Terrasse nebenan plötzlich mehrstimmig das Horst-Wessel-Lied erklingt? Schließlich ist der Mann ansonsten erschütternd freundlich und hilfsbereit zu ihr, zudem hingebungsvoller Vater eines kleinen Mädchens. Dora ist zunehmend ratlos, als sie bemerkt, dass sie Gote gegenüber anderen plötzlich verteidigt. Nichts ist schwarz und weiß im Leben, lernt sie eher unwillig. Das Zusammenleben besteht vielmehr aus unendlichen Grauschattierungen.
Argumentierte die Juristin Zeh in frühen Romanen wie „Corpus Delicti“ noch mahnend und politisch, wirkt sie jetzt zurückgelehnter und beobachtet mehr, wie die höchst unterschiedlichen Menschentypen, die sie in „Über Menschen“ aufeinander loslässt, mit den Anforderungen des Alltags zurechtkommen. „Die Antwort auf alle Fragen liegt direkt vor ihren Augen. Sie verbirgt sich in der Landschaft, in Stille und Dunkelheit. Stillhalten. Dem Leben beim Stattfinden zuschauen.“ Der Rest wird sich schon finden, glaubt Dora. Von wegen. Die selbstsichere Großstädterin, ihrer vertrauten Baumwollbeutel-statt-Plastiktüten-Attitüde beraubt, weiß nicht mehr weiter. Sie erkennt nur eines: Der wahre Kampf der Kulturen wird heute nicht zwischen Religionen oder Nationen ausgetragen, sondern zwischen Stadt und Land. So stark unterscheiden sich die Realität der Städterin und deren Vorstellung einer heilen Dorfgemeinschaft von der tatsächlichen Existenz in der Provinz.
Ganz allmählich entpuppen sich Doras bisherige moralische Glaubensgrundsätze als Klischees. Den Erkenntnisprozess dorthin schildert die Autorin immer plausibel, oft aber zu geradlinig – und ausführlich. Großartig dagegen ist Zehs präziser Blick auf scheinbar nebensächliche Details, etwa wenn es um die Diesel-Besteuerung oder Pandemie-bedingte Kita-Schließungen und deren direkten Durchschlag auf die Lebensqualität der Brandenburger geht. Corona spielt bei alldem nur eine Nebenrolle. Die restlichen Probleme in „Über Menschen“, angefangen bei den Nazis in Nachbars Garten über die Landflucht bis hin zum Klimawandel, waren alle vorher da.
Juli Zeh spricht manche Wahrheiten nur laut aus und setzt sie in ein geschickt arrangiertes Spannungsfeld. Sie schaut den Menschen in die Köpfe, und was man da zu sehen bekommt, gefällt nicht immer. Trotzdem lässt Zeh ihnen ihre Würde und Daseinsberechtigung, egal ob Nazi oder Fridays-for-Future-Aktivist. Macht aber gleichzeitig klar, dass ohne diese ganzen Ideologien alles besser funktionieren würde.
Juli Zeh:
„Über Menschen“. Luchterhand Verlag, München, 414 Seiten; 22 Euro.