Charlie Parker spielt für dich

von Redaktion

Haruki Murakamis Erzählband „Erste Person Singular“ verbindet Ost und West

VON HILDEGARD LORENZ

„Erste Person Singular“ – das ist das Ich, und die Verwendung der Ich-Form verführt extrem dazu, alles Erzählte als autobiografische Erlebnisse des Autors zu verbuchen. Doch genau das ist eine Falle. Ebenso wenig wie zum Beispiel Frank Arnold, der sensible, achtsame und exakte Vorleser der Hörbuchfassung, oder irgendeine Vorleserin identisch mit jenem japanischen männlichen Ich sind, obwohl jeder oft „ich“ sagt. Ebenso wenig ist es der Autor Haruki Murakami (Jahrgang 1949), so oft er auch „ich“ schreiben mag.

Zweifellos gehört sein neues Buch zu den besten Produktionen des Frühjahrs. Die acht Erzählungen führen in die Jugend des japanischen Ich-Erzählers, doch japanisch ist an diesen Geschichten relativ wenig: die Geografie Kobes und Tokios, die Namen der Figuren und die leichte Bauweise der japanischen Häuser mit dünnen Wänden „wie Papier“, was die Nachbarn zu permanenten Kontrolleuren des eigenen Privatlebens macht. Besonders peinlich, wenn man mal eine junge Frau bei sich übernachten lassen möchte.

Überhaupt die Frauen in „Erste Person Singular“. In der Jugend des Ich-Erzählers gibt es viele von ihnen, jede einzelne wird in ihrer Eigenheit gewürdigt und respektiert, sei die Freundschaft mit ihnen nun platonisch oder sinnlich. Aber nur eine ist dabei, die in dem Ich eine „Glocke zum Klingen bringt“ – und von dieser einen erfährt der Leser auffallend wenig.

Ansonsten ist fast alles in den Erzählungen westlich. Da sind die Freude am Jazz, an den Beatles und an Schumanns „Carnaval“, die literarische Reverenz an Kafkas Affen aus „Bericht für eine Akademie“ in Murakamis Erzählung „Bekenntnis des Affen von Shinagawa“ und auch die erwähnte Lektüreliste des Ich, das lieber in der öffentlichen Bibliothek Balzacs Gesamtwerk in sich einsaugt als Mathe fürs Abitur zu büffeln. Die Lehrer winken dieses Ich trotz enormer Absenzen am Schluss doch durch die Prüfungen, um es endlich loszuwerden und den Burschen nicht noch ein weiteres Jahr am Hals zu haben.

Der einzige literarische Verweis auf ein real existierendes japanisches Werk (wenn man von den fiktiven wunderschönen Tankas der ersten Geschichte einmal absieht), nämlich auf den Roman „Zahnräder“ von Akutagawa Ryūnosuke (1892-1927), verirrt sich wie zufällig durch die Einführung eines japanischen Lesebuchs in eine der Geschichten, in der am Ende vom Freitod der weiblichen Hauptfigur berichtet wird. An dieser Stelle erkennt man die Funktion des Zitats: Auch Ryūnosuke beging Suizid, und diese Tatsache deutet schon relativ früh auf den tödlichen Ausgang der Geschichte hin.

Überhaupt hat alles bei Haruki Murakami doppelten Boden. Vieles in seinen Geschichten verknüpft sich ganz in japanischer Tradition mit Übersinnlichem. Da steht plötzlich ein alter Mann vor dem Ich und gibt ein Rätsel auf, verschwindet aber, bevor das Ich ihn weiter befragen kann. Eine Schallplatte, die es gar nicht gibt („Charlie Parker plays Bossa Nova“), kommt dem Erzähler in einem Plattenladen unter – und ist ihm zunächst zu teuer. Die Scheibe wurde vom Ich in seinem ersten Zeitungsartikel erfunden, hier hat es sie nun mit allen ebenfalls ausgedachten Titeln in genau der vorhergesagten Bandbesetzung und Reihenfolge in den Händen. Trotz des Preises will der Erzähler sie doch, aber beim zweiten Besuch ist sie natürlich nicht mehr da. Auf seine schüchterne Nachfrage fertigt ihn der Verkäufer mit einem Witz ab: Er könne ebenso gut nach „Perry Como sings Jimi Hendrix“ fragen. Im Traum erscheint ihm der „Vogel“ – Parkers Spitzname war „Bird“ – und gibt nur für ihn einen Teil dieses Bossa-Nova-Konzerts auf seinem Altsaxofon. Kann ein Gedanke schöner sein?

Haruki Murakami:

„Erste Person Singular“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Verlag, Köln, 224 Seiten; 18,99 Euro. Hörbuch ungekürzt gelesen von Frank Arnold (Hörbuch Hamburg).

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