Ein erholsamer Osterspaziergang ist es nicht geworden, den der Mann unternommen hat. Im Wald hat er sich verlaufen, er weiß nicht aus noch ein, zumal ihn obendrein aggressive Beutegreifer bedrängen. Löwe, Panther und Wölfin (Todsünden-Symbole und/oder Wappentiere) – wohin soll er fliehen? Plötzlich ist da ein älterer Mann, den er als den längst verstorbenen römischen Dichter Vergil erkennt. Ausgerechnet der soll dem Jüngeren helfen. Der Ich-Erzähler, selbst Schriftsteller, vertraut dem Kollegen. Und der hat tatsächlich die Macht, ihn zu retten. Der Spaziergang wird allerdings zur tagelangen strapaziösen Wanderung: durch Inferno, Purgatorium (Fegefeuer) samt irdischem Paradies in den Himmel. Es ist „Die Göttliche Komödie“ von Dante Alighieri (wohl Frühjahr 1265 bis 14. September 1321), die einen Reisebericht wagt.
Wie vieles in dem weltweit berühmten, aber sicherlich kaum gelesenen Buch aus 14 000 Versen in Dreierreimen (Terzinen), enthält diese spezielle Wanderung eine Fülle von Bedeutungen. So sehr es um Politik, um Dichtkunst, Mythologie und Zahlenmystik, ja sogar um Physik und Astronomie und vor allem um zahllose menschliche Schicksale geht, die Grundstruktur ist österlich: Eine Heilsgeschichte wird erzählt.
Die Oster-Evangelien berichten dramatische, gewagte, revolutionäre Heilsereignisse. Und Dante möchte das für seine Zeit ebenfalls tun mit seinem Werk, das zwischen 1307 und seinem Tod entstand; der jährt sich heuer zum 700. Mal. Dass dieses fast größenwahnsinnige „geheiligte Lied“ bis heute und auf dem ganzen Globus wirkt, in Alltagssprache und Reklame eingedrungen ist, dass es alle Kunstgattungen bis hin zum japanischen Anime-Film inspiriert, das konnte der mittelalterliche Florentiner im Exil nicht ahnen.
Womöglich würde er sich aber gar nicht wundern, denn extrem selbstbewusst muss er gewesen sein. Er begeht gleich mehrere massive Regelverletzungen. Dante schreibt sein Opus magnum nicht auf Latein, sondern in der florentinischen Volkssprache. Das war damals „shocking“. Und so eine ernste, tief religiöse Angelegenheit, wie er sie sich vorgenommen hatte, „Commedia“ zu nennen, war suspekt. Aber: Der Bezug zur Antike war statthaft – und was ein Happy End hat, ist „Commedia“.
Das „divina“, also „göttlich“, kam übrigens erst später dazu; Kollege Boccaccio („Decamerone“) sorgte Mitte des 14. Jahrhunderts in seiner Dante-Biografie dafür. Erstaunlicher ist für uns heute eine andere Regelverletzung. Herr Alighieri maßte sich tiefgründige theologische Kompetenz bis hin zur Dreifaltigkeitslehre an; mal abgesehen davon, dass er ganz schön viele Päpste in die Hölle schickte. Ein weiterer Verstoß war die Dokufiktion, dass er selbst diese Reise erlebt habe.
Das führt direkt zu Dantes extremstem Wagnis: Bis zu einem gewissen Grad setzt er den Weg des Ich mit dem Weg Jesu parallel. Die Blasphemie wendet er ab, indem in den 100 Gesängen immer und immer wieder betont wird, dass alles nur aus Gottes Wille und Gnade heraus passieren könne. So abgesichert, kann er Jesus folgen – und zwar als Lebender. Allen getauften Menschen ist das in Dantes Konstrukt möglich. Aber Gott werden sie sich vor dem Jüngsten Gericht nur als Tote/Geister nähern. Sie werfen im Jenseits keine Schatten; das Ich schon und wird dementsprechend bestaunt.
Der Schriftsteller baut zunächst seine Welt: den Wald, halb Wirklichkeit, halb Sinnbild für seelische und ethische Verwirrung; das Inferno, das wie ein Trichter in die Tiefe geht; der Purgatoriumsberg, der sich in Terrassen erhebt; das himmlische Paradies, das ebenfalls gestaffelt ist – bis die göttliche Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist als Lichtphänomen sichtbar wird. Feste Materie ist unwichtig geworden.
Das Neue Testament und Dante schildern Gott/Jesus/Geist als die Größe der maximalen Bewegung, der Freiheit. Sie bewegt nicht nur das Universum („Die Glorie dessen, der bewegt das Ganze / durchdringt das All …“), sie wird sogar selbst Mensch inklusive Geburt, Tod – und Auferstehung; und danach wieder Gott. Luzifer hingegen ist nach seinem Himmelssturz zur maximalen Unbeweglichkeit verdammt. Er sitzt im Trichterende und bis zu den Hüften im ewigen Eis.
Dass Christus an Karfreitag sogar in der Hölle vorbeischaut, berichtet Vergil, der als anständiger Heide in einer Art Vorhof-Inferno ausharren darf: „Ich war noch Neuling hier im Reigen, / Da sah ich den gewaltigen Herrscher kommen, / Gekrönt mit seines Sieges Lorbeerzweigen. / … / Doch merk: Zuvor hat’s nie sich zugetragen, / dass sein Erlösungsruf hier mochte tönen.“ Übrigens: Früher beteten die deutschen Christen im Glaubensbekenntnis „hinabgestiegen in die Hölle“; heute ersetzt durch „in das Reich des Todes“.
An die allmächtig-göttliche Bewegungsfreiheit und Grenzüberschreitung kann die Dante-Figur naturgemäß nicht wagen zu denken. Die Grenzen Leben/Tod und Mensch/Gott bleiben unangetastet. Aber als Lebender, wie Vergils Held Äneas, das Jenseits zu durchwandern und zurückzukommen auf die Erde, hebt den Erzähler über alle anderen Gestalten hinaus: selbst über die Seligen wie seine weise, hypergebildete, argumentativ beschlagene Beatrice. Sie und Vergil können gewaltige Barrieren überwinden; das Ich wäre hilflos und könnte den Weg zum Heil nie ohne sie vollenden. Dennoch wird ihm die Gnade erwiesen, die kühnste Reise machen zu dürfen. Darin spiegelt sich das österliche Geschenk der Erlösung von Sünde und Tod („…, der sterbend sie der Schuld entrissen.“).
„Die Göttliche Komödie“ will trotz all ihrer Gelehrsamkeit, ihrer wütenden Polit-Kritik, der grausigen Horrorszenen im Inferno und der Zweifel an Gottes Gerechtigkeit doch kindlich vertrauen: Der „gewaltige Herrscher“ ist „Sieger“, weil er sich für die Menschen hat töten lassen – und deswegen müssen sie nicht wie die Dante-Figur die Hölle erleben, ihnen steht, wenn sie wollen, die schönere Reise offen: „O luce eterna, che sola in te sidi, / sola t’indendi, e da te intelletta / ed intendente te ami e arridi!“
„O ewiges Licht! ruhvoll in dir bestehend; / Nur dir verständlich und von dir verstanden / Verstehend, lächelst du dir, Liebe wehend!“