Um solche Wörter beneidet uns die Welt: Wörter wie „Rindfleischkaufverdrüsse“, die (fast) nur im Deutschen möglich sind. Erfunden hat diesen Buchstabenwurm der Lyriker Carsten Stephan, der damit, wenn auch auf recht eigene Weise, die Grenzen des Sagbaren ein wenig erweiterte. Aber gerade deshalb schätzen und brauchen wir ja die Dichter: damit sie das passende Wort finden – und manchmal ist das einzig passende Wort eben ein grell deplatziertes, schräges, gewollt unpassendes.
Meist scheint das in Situationen der Fall, wie wir sie gerade erleben: Zeiten, da die Welt aus den Fugen ist. Zeiten, in denen es dem Menschen ergeht wie dem Computer. Wenn der abstürzt, werden die Programme nämlich anschließend erst mal im „abgesicherten Modus“ ausgeführt, und etwas Ähnliches erfahren wir derzeit auch: Unsere Gefühle laufen quasi im abgesicherten Modus, also wie unter Vorbehalt und mit eingeschränkter Funktion. Alles andere wäre ein Wunder, denn wenn über der halben Welt der Ausnahmezustand lastet wie eine Bleikuppel, wird niemand erwarten, dass die menschliche Emotionalität unberührt im Normalzustand verbleibt.
Insofern kann man auch über die jüngste Ausgabe der Jahresschrift „Das Gedicht“, in der sich Carsten Stephans Text mit den Rindfleischkaufverdrüssen findet, diesmal nur unter Vorbehalt sprechen. Denn die neue Nummer von Deutschlands bedeutendster Lyrik-Zeitschrift widmet sich unter dem Titel „Die Wiederentdeckung der Liebe“ einem der gefühlsträchtigsten Themen überhaupt. Trotzdem lässt sich zumindest so viel sagen: Im Normalfall, also wenn wir nicht unter einer Art Zauberbann stünden, müsste man dem neuen „Gedicht“ attestieren, eine hochkarätige Anthologie zu sein, die großes, lang anhaltendes und immer wiederkehrendes Lesevergnügen bereitet. Mehr noch, man müsste den rührigen, unermüdlichen und selbstlosen Herausgeber Anton G. Leitner aus Weßling rühmen dafür, dass ihm ein faszinierender, aufschlussreicher Querschnitt durch die deutschsprachige Liebesdichtung der Gegenwart gelungen ist – noch dazu unter erschwerten Umständen.
Denn all dies ist tatsächlich der Fall, bloß will sich momentan die Freude daran höchstens in gedämpfter Form einstellen. Weil es nämlich nicht nur kein richtiges Leben, sondern auch kein richtiges Lesen im falschen gibt – zumindest, was Liebesgedichte anlangt. Und bekanntlich geht ja auch bei vielen Tieren in Gefangenschaft der Paarungstrieb deutlich zurück…
Also handeln in der aktuellen Situation all die wunderbaren Texte aus dem neuen „Gedicht“ ungewollt nur in zweiter Linie von der Liebe. In erster Linie artikulieren sie für den jetzigen Leser die Diskrepanz zwischen dem, was sein sollte, und dem, was ist. Sie sind der permanente Fingerzeig auf jene hoffentlich nur vorläufig suspendierte Normalität, in der allein sie als das funktionieren, was sie eigentlich sind: Liebesgedichte eben.
Besorgen sollte man sich das neue „Gedicht“ auch deshalb unbedingt. Als Investition in eine Zukunft, in der dann tatsächlich die „Wiederentdeckung der Liebe“ stattfinden wird – und die Liebeslyriklesewonnen alle Rindfleischkaufverdrüsse aufwiegen.
Anton G. Leitner (Hrsg.):
„Das Gedicht. Band 28“. Anton G. Leitner Verlag, Weßling, 207 Seiten; 15 Euro.