Sein Bart wird immer länger und wilder, aber zumindest die Spitzen hat sich Thomas Gansch schneiden lassen, wie er auf Facebook zeigt. Seit Beginn der Pandemie lässt sich der Wiener Trompeter das Barthaar wachsen – solange, bis er wieder ohne jegliche Einschränkung auftreten darf. „Karl Marx, Charles Darwin und Johannes Brahms habe ich schon lang überholt. Vor mir liegen nur noch Gandalf und Dumbledore“, sagt er im Videogespräch aus der heimischen Küche.
Normalerweise spielt der Trompeter mit Mnozil Brass, einem von ihm 1992 mitbegründeten Blechbläser-Septett, rund 90 Konzerte im Jahr in Europa, Asien und den USA. In ihren skurrilen hochvirtuosen Shows wechseln die studierten Musiker zwischen Volksmusik, Schlager, Klassik, Jazz und Rock. 2020 kam das Ensemble nur auf wenige Auftritte. Mnozil Brass sei in der Krise „wie ein dicker Käfer, der auf dem Rücken liegt“, formuliert es Gansch.
Nachdem es in Österreich wieder möglich war, andere Menschen zu treffen, streamte er live aus seiner Wohnung: Selbstvermarktung als Notlösung und Überlebensstrategie. Am 18. April 2020 war Premiere für „Gansch@home“ mit dem Trio Wieder Gansch & Paul, einer sehr groovenden Version von George Michaels „Faith“ und einer klaren Ansage: „Wenn es Euch gefällt, dann zahlt etwas. Wenn es Euch nicht gefällt, zahlt auch etwas.“ Finanziell war das Format von Beginn an ein Erfolg. Nur ans fehlende Publikum konnte sich Gansch nicht gewöhnen: „Man haut sich voll rein – und danach fällt man in ein großes Loch. Das war richtig deprimierend.“ 16 Konzerte, die alle auf seiner Website nachgehört werden können, sind bis heute über die Bühne gegangen.
Im Popbereich ist Selbstvermarktung schon länger ein Geschäftsmodell. Durch Plattformen wie Youtube können Künstlerinnen und Künstler nicht nur Bekanntheit erreichen, sondern ab einer gewissen Klickzahl Einnahmen generieren. Auch die Gema bietet ihren Mitgliedern mit dem Programm MusicHub eine direkte Veröffentlichung der eigenen Musik bei Streamingplattformen wie Spotify und Downloadportalen wie Itunes an – ohne Label oder Verlag im Hintergrund.
In der Klassikszene haben schon längst Orchester wie die Berliner Philharmoniker oder Festivals wie das Glyndebourne Festival Opera ihre eigenen Plattenfirmen gegründet. Für Solokünstler ist Selbstvermarktung ungleich schwieriger. Die Geigerin Julia Fischer hat vor vier Jahren diesen Schritt gewagt und sich vom großen Label Decca gelöst. „Ich möchte nicht gezwungen sein, eine bestimmte Zahl von Aufnahmen zu machen, Interviewtage einzulegen oder CDs zu signieren“, sagt die Münchnerin. „Das entspricht nicht meinem Naturell. Wenn ich an ein Stück glaube, möchte ich es aufnehmen. Und wenn ich nichts aufnehmen möchte, dann möchte ich auch diese Entscheidung treffen können.“
Dafür hat sie den sogenannten „JF Club“ gegründet, auf dessen Website sie nicht nur Aufnahmen veröffentlicht, sondern auch einen Einblick hinter die Kulissen gewährt und über Kompositionen spricht und schreibt. Auch ein direktes Kennenlernen ist bei den „Meet and Greet“-Veranstaltungen möglich – in einer Probe oder nach einem Konzert. „Bei einer meiner ersten derartigen Veranstaltungen in London hatte ich einen älteren Mann dabei, der seit 60 Jahren in die Royal Festival Hall geht, aber nie hinter der Bühne war. Er war ganz gerührt von dieser Erfahrung. Ich kann sicherlich durch den Club einige Barrieren überwinden“, sagt Julia Fischer.
Die Mitgliedschaft kostet fünf Euro im Monat oder 50 Euro im Jahr. Die Mitgliederzahl liegt schon im höheren vierstelligen Bereich. „Geld verdient man mit dem Live-Geschäft, mit Konzerten“, sagt die selbstbewusste und selbstbestimmte Geigerin. „Natürlich erziele ich Erlöse aus den Mitgliedschaften, aber das ist ähnlich wenig wie bei den früheren Einnahmen aus Albumverkäufen. Im Verhältnis zu Konzertgagen ist das verschwindend gering.“
In Zukunft werden einige Clubaufnahmen auch bei Hänssler Classic auf Vinyl erscheinen – als Angebot für diejenigen, die ein physisches Produkt in der Hand halten möchten. Ist ihr „JF Club“ auch ein Geschäftsmodell für Kolleginnen und Kollegen? „Die Frage ist, ob jemand selbstständig genug sein will und sein kann“, gibt Julia Fischer zu bedenken. „Man muss auch bereit sein, auf das Marketing eines Labels zu verzichten. Beispielsweise wird der Opus-Klassik-Preis von der Tonträgerindustrie veranstaltet. Die Events, die es im Fernsehen gibt, werden bestimmt von den großen Klassiklabels. Für mich ist das aber nicht einmal ein Verzicht, weil ich sowieso nie gerne zu diesen Veranstaltungen gegangen bin.“