Die Temperaturen steigen

von Redaktion

Online-Konzert der Münchner Philharmoniker unter Philippe Jordan mit Geiger Marc Bouchkov

VON TOBIAS HELL

Musikkritiker sind manchmal eine gehässige Spezies. Man denke nur an den berüchtigten britischen Kollegen, der das Finalrondo aus Jean Sibelius’ Violinkonzert einst wenig charmant als „Polonaise für Eisbären“ beschrieb. Der Popularität des Werks hat dies zum Glück keinen Abbruch getan. Schuf der in seiner Jugend selbst als Geigenvirtuose hochgelobte Finne doch eine Komposition, die den Aufführenden nicht nur technisch einiges abverlangt, sondern vor allem reichlich Gelegenheit bietet, um ein breites Spektrum an Emotionen zu zeigen.

Im aktuellen Stream der Münchner Philharmoniker ist es nun Marc Bouchkov, der sich im letzten Satz keineswegs in Richtung Polarkreis bewegt, sondern stattdessen die Temperaturen parallel zum Tempo noch einmal steigen lässt. Es ist der effektvolle Schlusspunkt einer Interpretation, die schon im nuancenreich gestalteten ersten Satz bewiesen hatte, dass Bouchkov nicht nur in den konzentriert angegangenen Solokadenzen das Geschehen dominieren kann, sondern ebenso im Dialog mit dem sich teilweise wild aufbäumenden Orchester seine Position behauptet. Nicht, dass es viel Konfliktpotenzial geben würde. Dirigent Philippe Jordan gönnt seinem Solisten die nötigen Freiräume, setzt bei aller Kollegialität aber bereits hier mit den Musikerinnen und Musikern immer wieder eigene Akzente.

Der Kopfsatz der anschließenden vierten Symphonie von Brahms wiegt einen im Vergleich dazu mit entspannten Tempi anfangs beinahe noch in Sicherheit. Jordan nimmt sich Zeit, die Themen zu etablieren und beweist im folgenden Andante moderato weiter einen langen Atem. Die hier aufgebaute Spannung wirkt bis ins deutlich angriffslustigere Scherzo fort, das bei aller Heiterkeit das wuchtige Finale vorausahnt. Eine Lesart, die an mehr als einer Stelle den berühmten Essay Arnold Schönbergs im Hinterkopf zu haben scheint und das Werk weniger als Brahms’ Schlusswort zur Gattung der Sinfonie betrachtet, sondern als herausfordernden Blick nach vorne.

Internet-Aufzeichnung

von diesem Samstag, 19 Uhr, bis zum 22. April, 24 Uhr, unter mphil.de.

Artikel 5 von 11