Das Bayerische Staatsballett reagierte sogleich: Auf Twitter verkündeten die Münchner am Sonntag, dass man die für den Abend geplante Online-Vorführung von „Paradigma“ dem Choreografen Liam Scarlett widme. Scarlett hatte zusammen mit Russell Maliphant und Sharon Eyal für die Choreografie verantwortlich gezeichnet. Diese Widmung sollte eine Würdigung des großen Talents Liam Scarlett sein, der am Wochenende mit nur 35 Jahren in seinem Haus im britischen Ipswich gestorben ist.
Es mehren sich Stimmen, die behaupten, er habe sich das Leben genommen. Der lange als große Hoffnung des Balletts gefeierte Scarlett war im August 2019 vom Royal Ballet London von seiner Funktion als Hauschoreograf suspendiert worden. Schüler der Royal Ballet School hatten ihm vorgeworfen, sie sexuell belästigt zu haben. Eine interne Untersuchung fand statt, vor Gericht wurden die Vorwürfe nicht gebracht. Doch weitere Häuser wandten sich in der Folge von ihm ab.
In der Szene werden angesichts von Scarletts Tod nun Stimmen laut, die die „Cancel Culture“ hinterfragen – sprich: die Zensur von Werken, deren Entstehung oder deren Schöpfer fragwürdig sind. Schließlich seien viele große Künstler der vergangenen Jahrhunderte menschlich schwierig gewesen – ihre Werke aber seien dennoch sehenswert, argumentieren diese Kritiker. Andere reagieren darauf erbost. „Meine Gedanken sind bei allen, die Liam Scarlett geliebt haben. Und bei den Opfern von Missbrauch im Ballett, denen nun unterschwellig vorgehalten wird, dass ihr Verlangen nach Aufklärung und juristischer Verfolgung Grund für eine Tragödie sei, die nicht ihre Schuld ist“, schreibt eine Twitterin. KATJA KRAFT