Dämonische Heiligenlegende

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Peter Handkes Erzählung „Mein Tag im anderen Land“

VON ANDREAS PUFF-TROJAN

Der Untertitel von Peter Handkes neuer Erzählung lautet: „Eine Dämonengeschichte“. Dämonen erfreuen heute das Herz aller Harry-Potter- und sonstiger Fantasy-Fans. Dass Jesus Christus in den Evangelien Dämonen austreibt und besessene Menschen heilt, ist heute weit weniger populär. Peter Handkes Hauptfigur ist ein Besessener, von Beruf aber Obstgärtner. Vor drei Jahren publizierte Handke eine Erzählung mit dem Titel „Die Obstdiebin“. Sie ist eine Lichtgestalt und eine Außenseiterin, jemand, der besonders, eben anders ist. Das trifft auch auf Handkes Besessenen zu. Nur dass ihm die Leute lieber aus dem Weg gehen.

Es ist seine dämonische Raserei in Worten, die alle erschreckt. Nichts ist ihm heilig: „Nichts war mir recht an der Schöpfung. Nichts an ihr ließ ich gelten.“ Der Kranke erinnert sich allerdings nur fragmentarisch an seine Besessenheit. Als Geheilter berichtet ihm seine Schwester von seinem jahrelangen seltsamen Verhalten. Das heißt, Handkes Anti-Held gibt im ersten Teil der Erzählung wieder, was andere über seine Zeit der Besessenheit berichten. Wie aber wurde der Besessene geheilt? Die Antwort bietet der zweite Teil von Handkes Geschichte.

Der Besessene und dessen Schwester stehen am Ufer eines Sees. Ein paar Männer ziehen ein Boot aus dem Wasser. Unter diesen Fischern gibt es den „Guten Zuschauer“, wie der Dichter ihn nennt. Und dieser geht auf den Kranken zu – und heilt ihn. Die symbolische Nähe zu Jesus Christus ist offensichtlich. Die Apostelbrüder Petrus und Andreas waren Fischer. Jesus nennt seine Jünger „Menschenfischer“. Im Johannes-Evangelium erscheint Jesus nach seiner Auferstehung den Jüngern am Ufer des Sees Genezareth, während diese im Boot arbeiten. Doch die Nähe zu jenen Fischern wird vom Autor willentlich wieder verwischt: „Nein. Du gehörst nicht zu uns, Freund. Du hast hier nichts zu suchen. Weg mit dir. Und auf der Stelle, dalli-dalli. Hinüber ins Land hinterm See mit dir, Nachbar.“

So begibt sich der einst Besessene auf den Weg, dorthin, wo der Titel von Handkes Erzählung Platz greift: „Mein Tag im anderen Land“. In diesem anderen Land hat der Held viele Begegnungen. Flüchteten früher die Menschen vor ihm, so suchen sie nun seine Nähe. Dabei zeichnet ihn nicht ein heilsames oder gar heiliges Sprechen aus, sondern die Gabe des Zuhörens. Somit tritt der einst Besessene in die Fußstapfen jenes „Guten Zuschauers“. Er ist der gute Zuhörer. Und wieder lässt Handke einen Bezug zur Geschichte Jesu aufblitzen: Dieses „andere Land“, indem nun der Protagonist verweilt, wird „Dekapolis“ genannt. Gemeint sind damit die zehn Städte östlich und südlich des Sees Genezareth, also ein Gebiet, in dem auch Jesus sich aufhielt.

Im dritten und kürzesten Teil der Erzählung erfolgt nochmals ein Perspektivenwechsel. Im Traum vermisst Handkes Held seinen ihm eigenen „Widerstand“ gegen das Harmonische in der Gesellschaft. So greift er das Widerständige seines Wesens auf, macht es sich wieder zu eigen und stößt einen „Kriegsschrei“ aus – ähnlich den Schreien, die er einst als Besessener von sich gab.

Peter Handkes Erzählung „Mein Tag im anderen Land“ könnte man eine dämonische Heiligenlegende nennen. Wer Handkes Aufzeichnungen und Journale kennt, die sein gesamtes Werk begleiten, der weiß, dass dieser Autor dem Heiligen nicht abgeneigt ist. Aber ebenso ersichtlich ist, dass er das Moralische, das religiös Festgefügte mit einem „Kriegsschrei“ ablehnt. Das Dämonische wie das Heilige zu beschwören, wirkt möglicherweise antiquiert. Indem aber Handke das Heilende wie auch das Widerständige als wesentliche Elemente im Sein und Werden der Gesellschaft positioniert, sagt er weit mehr aus als eine dem Zeitgeist ergebene Beobachtungs- oder gar Betroffenheitsliteratur. „Mein Tag im anderen Land“ ist Lektüre, die lohnt, weil sie zum widerständigen Nach-Sinnen anregt.

Peter Handke:

„Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonengeschichte“. Suhrkamp Verlag, Berlin, 94 Seiten; 18 Euro.

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