„Das soll Musik sein?“ Diese Frage zu provozieren (natürlich gefolgt von dem Befehl „Mach den Krach leiser!“), gelingt Jugendlichen schon längst nicht mehr. Heute haben ihre Eltern im Zweifelsfall selbst das krasseste Zeug im Plattenschrank oder auf der Playlist. In den Achtzigerjahren aber gab es ihn noch, den ultimativen Schocker für alle Erwachsenen, das furchteinflößend Unbekannte. Punk, Hip-Hop, Techno – ganz besonders schlimm: extremer Heavy Metal. Und wenige spielten Heavy Metal so extrem wie die deutsche Band Kreator.
Hackepeter-Schlagzeug und Gitarren, die klingen wie Killerbienen im Angriffsmodus. Gebrüllte, gekeifte, gegrunzte Texte, die sich mit der ganzen Bandbreite dessen beschäftigen, was das Dasein vor, während und nach dem Tod an Unersprießlichem bereithält: Was seinerzeit als Musik zum Davonlaufen geschmäht wurde, hat längst Einzug in die Feuilletons gehalten – und auch in die Wissenschaft. Der Historiker Marco Swiniartzki von der Schiller-Universität Jena betonte jüngst im „Spiegel“: „Ein Hören dieser Musik ist mit einer gesunden Psyche durchaus vereinbar.“
Nun haben Kreator eine Retrospektive über ihre formativen Jahre veröffentlicht. Die Vinyl-Box „Under the Guillotine“ – standesgemäß in einer als Fallbeil gestalteten Schachtel – beleuchtet die Anfänge 1984 bis 1992, die die Essener beim Indie-Label „Noise“ zubrachten. Generell eine Phase, die als goldenes Zeitalter des Heavy Metal gilt, in der sich das Genre auffächerte und beständig weiterentwickelte. Insbesondere im ganz harten Fach, dem Thrash Metal, gab es ein „Höher-Schneller-Weiter“ fast olympischen Ausmaßes, was Brutalität, aber auch technische Finesse anging.
Das gilt auch für Kreator, deren dilettantisch gebolztem Debüt „Endless Pain“ es noch gehörig an Timing mangelte, die aber einen Riesenschritt an Komplexität hinlegten bis zu ihrem Opus magnum „Pleasure to kill“, das 1986 zusammen mit Slayers „Reign in Blood“ und „Master of Puppets“ von Metallica Geschichte schrieb.
Auch wenn Band-Chef Miland „Mille“ Petrozza sich stets gegen Rassismus und Ausgrenzung positionierte, hat diese Musik grundsätzlich nichts mit Gesellschaftspolitik am Hut, sondern zelebriert ästhetisches Grenzgängertum – sicher ein Hauptgrund, warum sie sich bis heute nicht überlebt hat. Dennoch kann man sich Kreator nicht ohne die soziokulturelle Herkunft vorstellen: den sterbenden Kohlebergbau im Ruhrpott, die proletarische Tristesse jener Jahre. All das schwingt mit, wenn Mille wie eine Wetterhexe von Tod und Teufel kreischt. Nach einer Durststrecke in den Neunzigern gelten Kreator heute als Säulenunheilige der Szene. Ihre aktuelle LP „Gods of Violence“ schaffte erstmals in ihrer Karriere den Sprung auf Platz eins der deutschen Albumcharts. Bei all dem Wahnsinn ist es fast rührend zu sehen, als was für ein ruhiger, reflektierter, netter Typ Mille in den Interviews auf der beiliegenden DVD rüberkommt. Es ist das alte Lied von der Katharsis: je drastischer die Kunst, desto größer die Läuterung. Wir müssen uns Kreator und ihre Fans als glückliche Menschen vorstellen. JOHANNES LÖHR
Kreator:
„Under the Guillotine“ (BMG) ist als LP-Box mit Buch, DVD, Kassette und USB-Stick sowie als Best-of auf Doppel-LP und CD erschienen.