Zauberkunst Mathematik

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Thomas de Padovas großartiges und vergnügliches Buch „Alles wird Zahl“

VON SABINE DULTZ

Als „Königin der Wissenschaften“ wurde in der Renaissance die Mathematik gefeiert. Mediziner, Philosophen, Maler, Architekten, Seefahrer – wer im 15. und 16. Jahrhundert auf sich hielt, nahm das neue, das indisch-arabische Zahlenwerk an, um auf dessen Grundlage zu Größe, Ruhm und Ehre zu gelangen und um das Denken, die Erfindungen und die Kunst zu revolutionieren. Die Rolle der Mathematik ist nach wie vor von größter Bedeutung. Doch die allgemeine Aufgeschlossenheit dieser Disziplin gegenüber ist heute eher gering. In Büchern über die Renaissance kommt sie kaum vor. Kein geringer Fehler, den sich der Schriftsteller Thomas de Padova („Nonna“) mit seinem großartigen Buch „Alles wird Zahl“ anschickt zu korrigieren.

Anschaulich beschreibt er, so der Untertitel, „Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand“. Und es darf behauptet werden, dass jeder Schüler, jede Schülerin einen anderen Zugang zu diesem Fach finden würde, wenn ihnen so lebendig wie hier die Geschichte der Zahlen, nämlich der Übergang von den römischen zu den arabischen, und ihre praktische Bedeutung nahegebracht würden. Man muss kein Rechen-Genie sein, um dieses Kompendium mit Gewinn und Lust zu  lesen. Rasch stellt sich bei der Lektüre heraus, dass die Geschichte der Zahlen auch eine Geschichte der Kunst ist.

Die fünf Protagonisten dieses Buches sind, erstens, der aus Königsberg stammende Johann Müller, bekannt als Regiomontanus, der sich mit elf Jahren an der Universität Leipzig einschrieb, nach Wien ging, für die Himmelskunde, für Landvermessung und Navigation maßgebliche Tabellen erstellte, an die Universität Padua wechselte und einen Buchverlag gründete. Der zweite ist der Mailänder Girolamo Cardano, der geniale Mathematiker und Glücksspieler, der Gewinnzahlen nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit errechnen konnte.

An dritter Stelle gehört Michael Stifel dazu, der Luther-Anhänger und Pfarrer in Sachsen, der den 19. Oktober 1533 als Tag des Jüngsten Gerichts vorausgesagt und damit einiges Unglück in seiner Dorfgemeinde angerichtet hat. Er wurde verhaftet, und nach einiger Zeit der Buße und Bewährung widmete er sich dem gründlichen Studium der Mathematik, schrieb sich mit 55 Jahren an der Universität Wittenberg ein und wurde zu einem der bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit.

Zu den großen Protagonisten der Mathematik-Geschichte zählen, viertens und fünftens, Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer. Es zählen ferner dazu die Stadt Nürnberg als zentrale Metropole Europas, ihre Kaufleute und Drucker, die nach Italien zogen, um die Verbreitung der neuesten mathematischen und damit auch der perspektivischen Erkenntnisse voranzutreiben. Jener Moment, „in dem sich Wissenschaft und Kunst auf völlig neue Weise miteinander verbinden, das mathematische Verständnis des Sehens in eine geometrische Darstellungstechnik übergeht“, schreibt de Padova, ist die Geburtsstunde einer neuen Bildsprache, „die die visuelle Kultur in der westlichen Welt für immer verändern soll“.

Anstoß dazu gab ein Goldschmied und Architekt aus Florenz, Filippo Brunelleschi, der mittels eines Apparats die Täuschung des Auges durch einen perspektivisch gelenkten, Raumtiefe vorgaukelnden Blick auf das Baptisterium des Florentiner Doms vollkommen machte. Eine Schlüsselszene der Kunst-, Wissenschafts- und  Mathematikgeschichte.

Leonardo da Vinci eignete sich die Regeln der Perspektive an, indem er seine Bildskizzen zunächst mit einem Gitternetz überzog und somit einen leeren, mathematischen Raum erstellte, der ihm alle gestalterischen, realistischen Freiheiten bot. Diesen neuen perspektivisch-geometrischen Gesetzen ordnete er auch die Abstufung der Ölfarben unter: „Was Du fünfmal so weit entfernt willst aussehen lassen, machst Du fünf Mal blauer.“ Sein Meisterstück, das fast neun Meter breite Wandgemälde „Abendmahl“ für das Dominikanerkloster Santa Maria delle Grazie in Mailand, wäre ohne die tiefen mathematischen Kenntnisse Leonardos nicht denkbar. Die Perspektive „als Teil von Leonardos Zauberkunst“. So formuliert es Buchautor Thomas de Padova.

Wie Leonardo war auch der junge Dürer mathematisch keineswegs vorgebildet. Aber er reiste nach Venedig, um die theoretischen Grundlagen der Malerei zu studieren. Durch seine Druckgrafiken war er bereits ein bekannter Mann. Doch wusste er um seine Defizite, wollte mehr lernen über die Methoden der perspektivischen Bildkonstruktion und die Proportionenlehre. Dazu bedurfte es der Mathematik, die er schließlich so sehr beherrschte, dass er auch noch als Verfasser mathematischer Bücher glänzen konnte.

Dürer spielte mit den Zahlen, die wie in den „magischen Quadraten“ verschlüsselte Botschaften enthielten. Ein bisschen Astrologie war durchaus in Mode. In seinem Kupferstich „Melancolia I“ hat er eine solche quasi versteckt. Jede der vier Zahlenzeilen ergibt die Summe von 34, die umgedrehten Zahlen seines damaligen Alters. Die Ziffern der letzten Zeile sind 4, 15, 14 und 1. 1514 ist das Entstehungsjahr des Bildes, 4 und 1 entsprechen der Stellung D und A im Alphabet, jenen Buchstaben (hier allerdings wieder in umgekehrter Reihenfolge), mit denen Dürer seine Werke signierte.

Die Malerei als Wissenschaft und die Mathematik als Freifläche der Fantasie – diese Maxime gilt für Leonardo und für Dürer gleichermaßen. Es ist ein Vergnügen, zusammen mit dem Autor ihnen und den anderen Renaissance-Genies darin zu folgen.

Thomas de Padova:

„Alles wird Zahl“. Hanser Verlag, München, 381 Seiten; 25 Euro.

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